DIE ASSASSINE
strömten ihm übers Gesicht, während er schallend lachte.
»Bei den Göttern«, prustete er nach einer Weile. »Das reicht für heute.« Er rollte sich zur Seite und stemmte sich auf die Beine, wobei er den unversehrten Fuß benutzte, um sich in die Höhe zu drücken. Dann setzte er sich in Bewegung, um seinen Dolch und den Sack aufzuheben. Als er mich anschaute, schüttelte er den Kopf.
Langsam folgte ich ihm. Schließlich blieb er stehen, mit dem Rücken zu mir und mit zitternden Schultern, und kniete sich neben den Sack.
»Wer ist mein nächstes Opfer?«
Einen Lidschlag lang hielten seine Schultern still. Dann ergriff er den Sack und drehte sich um. Alle Belustigung war aus seinen Augen gewichen.
»Keine weiteren Opfer vorerst. Nicht nach dem letzten.«
Er reichte mir den Sack. Ich starrte darauf, drehte ihn erst in die eine, dann in die andere Richtung und fragte leise: »Wer sind diese Leute?«
Erick zögerte. »Menschen, deren Tod die Regentin befohlen hat.«
»Warum?«
Er runzelte die Stirn, als hätte ihm noch nie jemand diese Frage gestellt, und als hätte er noch nie über die Antwort nachgedacht. »Keine Ahnung«, sagte er schließlich. »Weil sie etwas Falsches getan haben, etwas Unrechtes. Weil sie jemanden ermordet oder verletzt haben. Wie der Mann, der die Frau erwürgt hat – der Mann, den du getötet hast, als wir uns das erste Mal begegnet sind.«
»Was ist mit dem Falkengesichtigen? Was hat er getan?«
Unbehaglich verlagerte Erick das Gewicht. »Ich weiß es nicht.«
Dann kämpfte er seine Verwirrung nieder. Ich sah es in seinen Augen und daran, wie er die Schultern straffte. »Ich bin ein Sucher der Garde, Varis. Ein Meuchler, ein Assassine. Ich jage jene, die zum Siel geflüchtet sind. Ich brauche keinen anderen Grund dafür als den, dass die Regentin diese Leute tot sehen will. Nur das zählt für mich.«
»Aber woher weißt du, ob diese Leute den Tod verdienen?«
»Weil die Regentin es sagt. Und wenn die Regentin sagt, sie verdienen den Tod, dann ist es so.«
»Und wenn die Regentin sich irrt?«
Er stand auf, streckte die Hand aus und zerwühlte mir das Haar. Jenes ungewisse Etwas in mir sprang der Berührung entgegen, sehnte sich nach mehr, doch er nahm die Hand wieder fort.
»Die Regentin irrt sich nie«, sagte er mit tonloser Stimme, als wäre es ihm eingebläut worden. »Wir machen morgen mit dem Unterricht weiter«, verkündete er dann und stapfte davon.
Und das taten wir. Jeden Morgen, wenn ich meinen Unterschlupf verließ, hoffte ich, Erick anzutreffen. Manchmal war er da, manchmal nicht. Wenn nicht, kehrte ich zum Siel zurück – aber nicht immer mit dem Ziel, kurzzeitig vergessene Bündel oder eine unbeachtete Kartoffel zu stehlen. Nein. Erick versorgte mich mit Essen und Kleidern, obwohl ich immer noch am Siel auf Beutezug ging, wenn meine Vorräte sich dem Ende zuneigten und ich Erick längere Zeit nicht gesehen hatte. Und wenn ich verzweifelt war, wandte ich mich nach wie vor an den mehlweißen Mann. Nach ein paar Wochen Ausbildung gab Erick mir neue Opfer, und so begab ich mich zum Siel, um nach jenen Männern und Frauen Ausschau zu halten, die versuchten, sich vor dem Geisterthron zu verstecken, vor der Regentin … vor Erick.
Meine Ausbildung ging währenddessen weiter, doch ich brauchte niemanden mehr zu töten. Dafür sorgte Erick. Meine Aufgabe bestand lediglich darin, die Opfer aufzustöbern und Erick zu ihnen zu führen, wo immer sie sich im Elendsgebiet jenseits des Siels verkrochen hatten.
Es lief gut.
Bis Erick mich Garrell Karren suchen ließ.
Garrell Karren: ungefähr meine Größe, etwas älter, schmutzigblondes Haar, schlammbraune Augen und am Kieferansatz ein hellbraunes Muttermal, das aussah, als hätte jemand Bier verschüttet, das sich an seinem Hals zu einer Pfütze gesammelt hatte.
Garrell.
Ich kauerte am Siel, den Rücken an eine von der Sonne aufgeheizte Mauer gelehnt. Die Wärme sickerte durch das abgetrageneHemd, das Erick mir gegeben hatte. Suchend ließ ich den Blick über die vorüberziehende Menge schweifen. Ich rechnete nicht damit, Garrell zu entdecken. Mittlerweile hielt ich seit mehr als zwanzig Tagen nach ihm Ausschau. Insgeheim wartete ich bereits auf Ericks nächsten Besuch, um ihn zu bitten, mich auf die Fährte eines anderen zu setzen.
Ich blickte den Siel hinab, ohne die Leute wirklich wahrzunehmen. Ich sah nur die Bewegung der Menge …
Als ich plötzlich Blutmal erspähte.
Ich spannte die Muskeln und hörte
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