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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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auf die Schulter. »Wir haben geschworen, den Geisterthron zu beschützen, Nathem. Wir haben geschworen, Amenkor zu beschützen. Kannst du aufrichtig behaupten, dass der Thron sicher ist? Dass die Stadt sicher ist? Denk an das Feuer, an die Schließung des Hafens. Was wird sie als Nächstes tun? Vielleicht haben wir schon zu lange gewartet.«
    Nathem wirkte immer noch nicht überzeugt, wie seine skeptische Miene erkennen ließ.
    »Außerdem müssen wir Hauptmann Baill berücksichtigen«, fuhr Avrell fort, trat zurück und nahm die Hand von Nathems Schulter.
    Nathem schnaubte verächtlich. »Baill ist ein Narr.«
    Avrell schüttelte den Kopf. »Nein, Nathem. Das ist er nie gewesen. Er befolgt die Befehle der Regentin buchstabengetreu. Er hat seine Gardisten in die Straßen entsandt, um die Bürger Amenkors zu beschützen, wie die Regentin es verlangt hat, und er hat den Hafen geschlossen, wie es von ihr befohlen wurde …«
    »Aber wovor beschützen wir die Leute?«, spie Nathem hervor. »Das ergibt doch keinen Sinn! Baill hat die Regentin gesehen . Er weiß , dass die Befehle sinnlos sind!«
    »Dennoch führt er sie aus, ohne Fragen zu stellen«, sagte Avrell in bedeutungsschwerem Tonfall und suchte Nathems Blick. »Ohne das geringste Aufbegehren.«
    Nach einer Weile fragte Nathem: »Was willst du damit sagen?«
    Avrell holte tief Luft und hielt kurz den Atem an. »Ich will gar nichts sagen, Nathem«, meinte er dann. »Ich habe meineVermutungen, aber ich kann nichts beweisen. Jedenfalls stellt Hauptmann Baill keine unmittelbare Bedrohung dar. Die Regentin schon. Du hast gesehen, wie sie durch diese Hallen wandelt. Du hast gehört, wie sie vor sich hin murmelt, wie sie mit sich selbst streitet – manchmal in Sprachen, die wir beide noch nie gehört haben. Weißt du, was sie als Nächstes tun wird? Ist überhaupt noch jemand sicher, was sie tut?«
    Nathem senkte den Blick, starrte auf den Tisch mit dem Obst. »Nein«, flüsterte er so leise, dass ich es kaum hören konnte. Dann fügte er lauter, kraftvoller hinzu: »Nein. Niemand ist mehr sicher. Seit dem Feuer nicht mehr. Es hat irgendetwas mit ihr angestellt … Es hat sie verändert.« Er kniff die Augen zu.
    Avrell stand stumm da, die Hände wieder in den Ärmeln seiner Robe. Er wartete.
    Endlich schlug Nathem die Augen wieder auf.
    Sein Gesicht verdüsterte sich, als er abermals auf den Tisch blickte. »Ich hätte schwören können …«, setzte er an, ließ den Satz jedoch unvollendet.
    Mir begann der Hals zu kribbeln; die feinen Härchen in meinem Nacken richteten sich auf. Ich zog mich tiefer in die Deckung des Maßwerks zurück, wobei ich beobachtete, wie Avrell sich versteifte.
    »Was?«, fragte er. Seine Stimme klang wieder hart wie Stein. Der sanfte Tonfall, den er Nathem gegenüber angeschlagen hatte, war verschwunden.
    Die Stirn gerunzelt, starrte Nathem auf den Tisch. »Ich hätte schwören können, dass ich hier eine Rispe Weintrauben liegen gelassen habe.«
    Mist!
    Avrell wirbelte jäh herum. Seine Blicke zuckten durch den Raum, in die Schatten, in die Winkel, zur Trennwand aus Maßwerk.
    Und verharrten dort.
    Ich erstarrte, hielt den Atem an. Die ganze Welt schrumpfte,bis sie nur noch aus Avrells dunkelblauen, eindringlichen Augen und den tiefen Furchen zwischen seinen Brauen bestand.
    Eine scheinbare Ewigkeit, drei Herzschläge lang, begegneten sich unsere Blicke …
    Dann sagte Avrell mit angespannter Stimme: »Jemand aus der Dienerschaft muss sie gegessen haben.«
    Nathems Züge verrieten Verwirrung. »Warum hat er dann den Tisch nicht abgeräumt?«
    Ohne etwas zu erwidern, wandte Avrell sich Nathem zu.
    Ich holte vorsichtig Luft und spürte die nackte Angst tief in der Kehle. Wie warmes Blut lag sie mir auf der Zunge.
    Avrell begegnete Nathems Blick, bis die Zweifel aus den Augen des Hofmarschalls schwanden. Seufzend schüttelte er den Kopf.
    »Es muss etwas wegen der Regentin unternommen werden«, sagte er.
    Avrell zögerte kurz, ehe er erwiderte, ohne sich mir zuzudrehen: »Es ist bereits … in die Wege geleitet.«
    Nathem erstarrte. Mit steifem Rücken, offenem Mund und zornig funkelnden Augen stand er da. Dann verflog seine Wut, und seine Schultern sanken schicksalsergeben herab.
    Avrell führte ihn aus dem Raum. Angesichts der Tatsache, dass sie die Regentin töten wollten und der Stein bereits ins Rollen gebracht war, hatte Nathem die Trauben ganz vergessen.
    Kaum hatten sie den Raum verlassen, huschte ich aus meinem Versteck hervor und zu

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