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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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der Berge. Wir müssen eine andere Quelle für unsere wichtigsten Handelswaren finden. Mateo sagt, er hat sich in Merrell den letzten Rest Weizen und fast die gesamte Gerste gesichert – soviel er ins Schiff laden konnte, ohne zu sinken. Er hat einen saftigen Preis dafür bezahlt, doch ich glaube, dass es eine kluge Entscheidung war.«
    »Soll ich die Ladung zu Richar in Kent weiterschicken? Und den Ausrufpreis erhöhen, um die Mehrkosten zu decken?«
    Borund zögerte; dann blieb er stehen und blickte erneut zum Hafen. Der Strom der Menschen am Kai teilte sich um ihn wie strömendes Wasser um einen Dockpfeiler.
    Zwanzig Schritte dahinter huschte ich neben einen Karren, der mit toten Fischen beladen war. Ihre Mäuler waren offen, die Augen weiß verschleiert. Der Marktschreier sah mich einen Lidschlag lang finster an, ehe er sich wieder den Vorbeiziehenden zuwandte und mit erschreckend lauter Stimme rief: »Frischer Fisch! Geradewegs aus dem Meer! Frischer Fisch!«
    Inmitten des Menschenstroms wandte Borund sich vom Meer ab. Sein Blick schweifte über die Stadt bis hin zu der fernen Seite der Bucht, wo die Gebäude am Rand der Steilküste zu den unregelmäßigen Winkeln der dahinter liegenden Dächer anstiegen und so ein seltsames Muster über dem schiefergrauen Wasser bildeten. Als ich seinem Blick folgte, wurde mir plötzlich mit einem Übelkeit erregenden Schwindel klar, dass sich unter diesen Dächern der Siel erstreckte. Und dass ich auf einem dieser Dächer vor fast sechs Jahren beobachtet hatte, wie das Feuer aus dem Westen kam, über den Hafen fegte und alles verzehrte.
    Und dann hatte ich einen Mann getötet.
    »Nein«, sagte Borund, und ich löste den Blick von den Gebäuden, riss mich von meiner Erinnerung los und sah, dass Borund nun auf die Menschen starrte, die sich rings um ihn bewegten, dass er beobachtete, wie sie feilschten und fluchten und den Kai entlangeilten. Seine Stimme hörte sich schärfer an,und sein Blick huschte von Gesicht zu Gesicht. Doch er drehte sich nicht in meine Richtung. »Nein. Schick das Getreide nicht weiter. Sag Richar, wir können nichts erübrigen. Und richte Mateo aus, er soll alles kaufen, was er auftreiben kann, egal zu welchem Preis.«
    Borund begegnete Williams Blick, und irgendetwas Unausgesprochenes ging zwischen den beiden hin und her – ein stummer Austausch. Dann straffte William den Rücken.
    »Wie Ihr wünscht«, sagte er.
    Borund seufzte und schaute zur Sonne empor. Die Haut um seine Augen wurde faltig und runzelig, als er sie zusammenkniff. »Ich habe plötzlich das Bedürfnis, die Lagerhäuser zu überprüfen. Lass uns Inventur machen. Ich will wissen, was und wie viel wir auf Vorrat haben.«
    William nickte, und sie zogen von dannen. Ich blieb zurück. Zu den Lagerhäusern war ich ihnen schon einmal gefolgt. Dort trieben sich keine Leute herum; dort gab es keine Verstecke. Und sowohl William als auch Borund waren stundenlang in einem Gebäude verschwunden, während ich im Regen gewartet hatte.
    Ich blickte ihnen nach, als sie in der Menge verschwanden, und erspähte dabei einen kleinen Fisch neben dem Karren. Ein Auge war tief in den Kopf gesunken, und die Schuppen waren an der Sonne getrocknet.
    Ich warf einen raschen Blick zum Marktschreier.
    Fünf Minuten später befand ich mich tief in den Seitenstraßen auf dem Rückweg zu meinem Unterschlupf, mit dem getrockneten Fisch in der Hand.

    Zwei Tage später lungerte ich wartend und beobachtend am Rand einer Gasse gegenüber der Schänke, zu der William mich geführt hatte, um Borund zu treffen. Der Himmel war noch blaumit dünnen Wolkenschlieren, doch binnen einer Stunde würde es dunkel sein. Ich starrte auf die Tür der Schänke, lauschte den Geräuschen, die zur mir herausdrangen, wenn jemand das Haus betrat, und schmeckte Butter – so durchdringend, dass ich schlucken musste.
    Ich konnte nicht weit in die Schänke hineinsehen, doch Borund und William tauchten nie so früh auf, wenn sie herkamen. Nach einer Weile kauerte ich mich auf die Fersen, lehnte mich an die Mauer der Gasse und schloss die Augen.
    Sofort sah ich William vor mir. Sein schwarzes Haar, zerzaust vom Wind, der vom Meer wehte. Seine grünen Augen.
    Die Schuldgefühle kehrten zurück, doch diesmal wehrte ich mich nicht dagegen. Es war eigenartig erregend. Anders.
    Ich ertappte mich dabei, wie ich lächelte.
    Dann nahm ich den Geruch von Orangen wahr.
    Ich öffnete die Augen und setzte mich auf. Zwielicht erfüllte die Straßen. Der

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