Die Aufrichtigen (German Edition)
nachgegangen! Er musste schon eine ganze Weile zugehört haben und hatte sich nicht eingemischt. Das hätte sie nie für möglich gehalten.
»Von mir aus«, fuhr der Kommissar fort, »brauchen wir unsere kleine Auseinandersetzung vorhin im Bericht nicht zu erwähnen.«
»Danke«, erwiderte Sophie und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Chef.«
Der Kommissar lächelte und begann zu lesen.
Konstantin Spohr, niemals werde ich mich Dir und den Deinen anschließen. Du bist nicht im Besitz der Wahrheit, Du nicht, Celsus nicht und die Kirche nicht, die Du so sehr bekämpfst. Als Du mir am Palmsonntag mit Deinen Pranken den Hals zugedrückt hast, bis mir der Atem verging, habe ich all das Böse gesehen, das in Dir ist. Du warst einst mein kleiner Bruder. Sieh‘, was durch Gott aus Dir geworden ist! Du hast Dein Leben Gott gewidmet, ich habe ihn ein Leben lang bekämpft. Wir sind beide genauso weit von ihm entfernt, wie man sich nur denken kann. Du hast Recht, es ist Unsinn, sich die Taufe durch ein falsches Gutachten zu ergaunern. Ich sollte Dir dafür danken, dass mir im letzten Moment ein Licht aufgegangen ist. Aber selbst wenn all die Geschichten wahr wären, und wenn jedes Deiner Worte, jede Deiner Lehren buchstäblich wahr wären, so würde ich immer noch lieber in alle Ewigkeit in der tiefsten Hölle schmoren, als nur einen einzigen Moment mit Deinen Augen sehen zu müssen. Vielleicht hoffst Du, ich wüsste nicht, dass Du sie dazu gebracht hast, ihre Krebstherapie abzubrechen, vielleicht meinst Du, ich wüsste nicht, dass Du ihr Herz mit dem Märtyrertod vergiftet hast. Du täuschst Dich. Denn ich weiß es, ich weiß es, seit Du zum letzten Mal bei ihr warst und mich beim Abschied so seltsam angesehen hast. Du hast es nicht für sie getan, nicht für mich. Du hast es nur für Dich getan, weil Du dachtest, ihr Verlust würde mich in Deine Hände treiben. All die Jahre quälte ich mich mit dem Hass gegen Dich, all die Jahre sann ich danach, ob es irgendeine Möglichkeit gäbe, Dir zu verzeihen. Seit ein paar Stunden aber bin ich ruhiger, denn ich weiß nun, dass mich gar nie der Hass quälte. Was ich gegen Dich hege ist schlimmer als der Hass. So schlimm, dass ich kein Wort dafür habe. Mariechens Tod war schrecklich und ich habe ihn nie verwunden. Und doch schien es so, als wäre ein Leben ohne sie irgendwie nicht von vornherein ausgeschlossen. Vielleicht wäre irgendwann Halt in der Trauer zu finden gewesen, vielleicht hätte ich irgendwann mit ihr darüber sprechen können und vielleicht wäre ein kleiner Funken Hoffnung in diesem Gespräch gewesen. Mit ihrem Tod aber habe ich alles verloren. Ohne sie gab es niemanden mehr, mit dem ich darüber hätte sprechen können. Sie ist mit ihrer ganzen Trauer gestorben, ihrem ganzen Gram gegen mich. Du hast sie auf dem Gewissen, Konstantin, und ich weiß, dass es Dich quält —
»Genug!«, stöhnte der Pater auf.
»Lesen Sie weiter«, bat Julia den Kommissar, »lesen Sie das ganze wahre Wort zu Ende!«
Da durchfuhr ein Beben den Körper des Paters, er weinte laut und ungehemmt.
»Ja, ich habe es getan. Ich habe ihn getötet. Dass er es wusste, ist schrecklich!«
»Sag‘ ich doch!«, bemerkte Sophie trocken. »Mir reicht das als Geständnis. Ich denke, damit ist alles gesagt.«
»Nicht so schnell«, sagte Leo, den eine furchtbare Ahnung beschlich. »Ich glaube, der Pater meint das nicht so, wie du denkst.«
»Wie soll man das sonst verstehen?«
»Wir werden es gleich erfahren«, sagte der Kommissar und las weiter.
Du hast sie auf dem Gewissen und ich weiß, dass es Dich quält. Weil sie gestorben ist, kann auch ich nicht mehr leben, kann es nicht mehr, seit ihr toter Leib aus dem Haus getragen wurde. Mich quält die Ungewissheit, wo sie sind, sie und Mariechen. Ich hoffte, eine Antwort darauf zu finden, den Ursprung unserer Religion zu ergründen, die wahre Botschaft Gottes. Doch ich fand sie nicht, Konstantin, ich fand sie nicht, so wie Du nichts gefunden hast und keiner vor uns, und so wie keiner nach uns etwas finden wird. Denn es gibt keine Botschaft, es gibt nur Boten. Ich habe mich entschieden, Gewissheit zu erlangen. Was die Religion der Welt angetan hat, ist schrecklich. Doch viel schrecklicher ist, was sie unseren Seelen antut. Ich werde meiner Tochter, ich werde meiner Frau nachfolgen. Ich werde den Schierlingsbecher trinken, den Becher der Verzweifelten. Schon bald werde ich wissen, ob es Gott gibt oder ob all unser Sehnen, all die furchtbare
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