Die Aufrichtigen (German Edition)
mir gedacht habe. Er hat etwas auf die Leerseiten geschrieben. Das hat er oft gemacht.«
»Lies vor!«, forderte Leo sie auf.
Julias Blick wirkte verloren.
»Lies du, Leo. Für Frau Spohr ist das zu viel«, sagte Sophie.
»Nein, schon ok«, wehrte Julia ab. »Ich frage mich nur, ob diese Zeilen wirklich für uns bestimmt sind.«
»Wir können darauf leider keine Rücksicht nehmen«, beharrte Sophie.
»Ich habe Angst davor«, sagte Julia, »den letzten Rest der Wahrheit zu erfahren. Egal wie sie aussieht, es wird eine schreckliche Wahrheit sein. In den letzten Tagen ist das ganze bisschen Leben, das ich mir mühsam zurechtgelegt habe, mit einem Schlag weggewischt worden. Das Leben, wie ich es bisher kannte, war schwer und von bitterer Melancholie bestimmt. Aber es war ganz in Ordnung. Jeder hatte seinen Platz und alles schien trotz vieler Absonderlichkeiten erklärlich. Nun habe ich meine kleine Schwester entdeckt, habe zwei Onkel bekommen, die einander bis aufs Blut hassen und die ihr Spiel mit meinem armen Vater getrieben haben, der darüber alles verlor, was einen Mann ausmacht: sein Kind, sein Weib, seinen Glauben. Ganz am Ende schien er auch noch den Mut verloren zu haben, das Letzte was ihm blieb, und seinen Stolz und seine Ehre. All das geschah im Namen eines Gottes, einer Religion, die den Tod höher hält als das Leben. Wir alle werden von diesen alten Männern zum Narren gehalten, diesen alten Männern, die so tun, als ob die Wahrheit nur für sie bestimmt wäre. Sie maßen sich an, uns zu erklären, was Gut und Böse ist, wie wir leben, wofür wir sterben sollen, und doch dient alles nur ihren eigenen, armseligen Interessen. Von der entsetzlichen Schuld, die sie mit sich herumtragen, von der erzählen sie nichts. Sie werfen einander das Jämmerliche ihres Daseins vor. Ich habe mir oft gedacht, dass sie sich nur deshalb so unerbittlich bekriegen, weil sie danach gieren, beim anderen etwas noch Schäbigeres zu finden, als sie selbst es sind. Diese alten widerwärtigen Männer mit ihrem ganzen widerlichen Altenmännergestank glauben, die Welt unter sich aufteilen und uns unser Leben, unsere Liebe und unsere Zuversicht rauben zu dürfen. Sie halten uns klein mit Angst und Drohung, warnen vor dem Schrecklichen, das angeblich hinter ihnen steht. Wir sollen nicht fragen und einfach vergessen, wie das Leben gewesen ist. Das Leben voller Schönheit und Jugend, das Leben voller Kinder und Lachen. Ein alter Mann jagt den anderen davon, einer löst den anderen ab, einer ist abscheulicher als der andere. Und wehe, man wehrt sich. Dann stecken sie die Köpfe zusammen, so sehr sie vorher noch gestritten haben. Sie heben den Zeigefinger, rotten sich zusammen, um den Unverblümten zu zerstören. Sie verstoßen ihn aus ihrer Altenmännerwelt. Dabei will doch längst niemand mehr dort leben, einer nach dem anderen geht fort, weil er die Lügen, die Heuchelei nicht mehr ertragen kann. Wir vergessen, wie es in der Altenmännerwelt gewesen ist, wo die Jugend losgeschickt wurde, um die alten Männer mit ihrem Leben zu verteidigen. Wir vergessen die Altenmännerwelt, wir vergessen die alten Männer. Alle miteinander geraten sie in Vergessenheit, weil die Lüge nicht überliefert wird, weil die Heuchelei keine Zukunft hat. Den alten Männern laufen die Leute weg, den alten Männern mitsamt ihrem Altenmännergott, der zu nichts anderem taugt, als das Lachen unserer Kinder in den Kehlen zu ersticken. Pfui Teufel, ihr alten Männer! Nehmt Euren Gott und schämt Euch!«
Julia trat hoch aufgerichtet und voller Schönheit vor Pater Donatus hin. Sie hob das Buch hoch, Celsus Wahres Wort, und einen Augenblick lang schien es, als wolle sie es dem Pater mit ihren bebenden Händen ins Gesicht schleudern.
»Lesen Sie selbst, was mein Vater Ihnen geschrieben hat«, sagte sie, »lesen Sie selbst, denn ich weiß längst, was geschehen ist!«
Pater Donatus rührte sich nicht, doch es schien, als sei alle Kraft aus seinem Körper gewichen.
»Vielleicht soll ich vorlesen«, ertönte plötzlich eine Stimme.
Der Kommissar kam herein, der hagere Mann im Mantel und die beiden Polizisten folgten ihm. Er nahm Julia das Buch aus der Hand und baute sich vor dem Pater auf.
»Sie hatten Recht, Sophie. Es tut mir leid, dass ich nicht gleich mit Ihnen mitgegangen bin. Das SEK ist immer noch nicht da. Ich bin mit Ihren Methoden nicht einverstanden, aber mutig sind Sie, das muss ich Ihnen lassen.«
Sophie lachte über das ganze Gesicht. Er war ihr
Weitere Kostenlose Bücher