Die Aufrichtigen (German Edition)
die ihn einschüchterte.
»Ihr Vater ist tot?«, fragte er, um einen Anfang zu wagen.
Julia sah ihn überrascht an.
»Ich habe Sie das draußen sagen hören«, schob er als Erklärung hinterher und suchte nach einem tröstenden Wort. ›Von den Gefühlsregungen der Mandanten dürfen Sie sich nie irritieren lassen, wir sind eine Anwaltskanzlei und keine soziale Einrichtung. Mitgefühl bekommen die Leute überall, Blum, vergessen Sie das nicht.‹ Dr. Albertz‘ Wahrheiten waren manchmal schwer zu ertragen.
»Ihr Vater war gestern hier. Er war sich sicher, nicht mehr lange zu leben.«
»Hat er das gesagt?«
»Nicht direkt«, wich Leo aus, »er gab mir einen Umschlag und meinte, Dr. Albertz würde wissen, was damit zu machen sei, wenn er nicht mehr lebe. Mir war nicht klar, dass er davon ausging, dass dies schon so bald der Fall sein würde.«
»Geben Sie mir den Umschlag«, forderte Julia.
Konnte der Schwur Leo jetzt noch binden? ›Die Pflicht steht höher als das Gewissen, Blum, merken Sie sich das‹, pflegte Dr. Albertz in moralisch nicht einwandfreien Situationen zu sagen. ›Das Gewissen verpflichtet nur Sie, die Pflicht uns alle. Seien Sie nicht so anmaßend, sich selbst über alle anderen zu stellen.‹
»Ich habe ihn nicht hier«, log er.
»Ich muss den Umschlag unbedingt haben!«
»Ich bin mir sicher, dass sich das einrichten lässt«, beschwichtigte Leo. Er fühlte einen Migräneanfall herannahen.
»Worüber hat er mit Ihnen gesprochen?«
»Ihr Vater machte auf mich einen sehr verwirrten Eindruck, sprach von einem entsetzlichen Fehler und dass er die gerechte Strafe bekommen würde. War er krank?«
»Nein, sicher nicht! Es ist also wahr – sie haben ihn umgebracht.«
Leo erstarrte. ›Egal was die Leute Ihnen sagen, Blum, Sie bleiben immer souverän.‹
»Wie meinen Sie das«, fragte er leise, »wer hat Ihren Vater umgebracht?«
»Die Kirche!«
Leo hörte die Worte, hatte aber Mühe, sie zu verstehen. Julia war es bitter ernst.
»Die Kirche hat ihn umgebracht!«, wiederholte sie.
Leo richtete sich in seinem Stuhl auf. Er versuchte einen Punkt hinter Julia im Bücherregal zu fixieren. So etwas half ihm manchmal gegen die Migräne.
»Sie glauben mir nicht, nicht wahr? Aber mein Vater war ein bedeutender Historiker und vielleicht der wichtigste Kirchenkritiker unserer Zeit. Er hatte nur Feinde, mich ausgenommen – und meine Mutter. Ich war noch ein Kind, als sie starb.« Julia stockte. »Da ist noch etwas —«
»Was denn?«, fragte Leo.
»Seine Leiche lag so merkwürdig verdreht am Boden. Es sah aus, als ob er beim Beten starb.«
»Wie kommen Sie darauf?« Leo kniff die Augen zusammen.
»Er lag vor einem Kruzifix und einer aufgeschlagenen Bibel. Es war das neunte Kapitel des Briefes des Apostels Paulus an die Hebräer. Und fast alle Dinge werden mit Blut gereinigt nach dem Gesetz, denn ohne Blutvergießen gibt es keine Vergebung.«
Leo starrte sie fassungslos an.
»Verstehen Sie denn nicht?« sagte sie eindringlich, »Alles sieht nach einem Blutopfer aus!«
»Erzählen Sie der Reihe nach.«
Julia beugte sich nach vorn und legte die Ellbogen auf den Tisch.
»Kann ich ein Glas Wasser haben?«
Leo sprang auf, um jemanden zu bitten, welches zu holen. Doch dann ging er selbst zur Teeküche, wo er kaltes Wasser über seine feuchten Hände fließen ließ und sich Stirn und Schläfen benetzte. Einen Augenblick lang dachte er daran, einfach zu verschwinden.
»Mein Vater hat aus Überzeugung nie für die Kirche gearbeitet«, fuhr Julia fort, nachdem sie das Glas in einem Zug leer getrunken hatte. »Trotzdem habe ich einen Brief in seinem Schreibtisch gefunden, mit dem sich die Propaganda Fide für einen großen Dienst bedankt.«
»Die Propaganda Fide?«
»Die Congregatio de Propaganda Fide ist eine Organisation des Vatikans, die sich um die Evangelisierung der Welt kümmert. Böse Zungen nennen sie den Geheimdienst der Kurie. Sie wurde von Papst Gregor XV. zu Beginn des 30 jährigen Krieges ins Leben gerufen, um den Protestantismus zu bekämpfen. Sie ist in praktisch jede Schweinerei verwickelt, die man der Kirche nachsagt.«
»Aber warum sollte die Kirche Ihren Vater töten, wenn er ihr so einen großen Dienst erwiesen hat? Wer soll das überhaupt sein, die Kirche?«
Warum sollte er sich eine so absurde Geschichte auftischen lassen? Musste man denn immer gleich einen Mordkomplott heraufbeschwören? Sicher, auch Leo hatte von der schwarzen Vergangenheit der Kirche gehört. Aber wer
Weitere Kostenlose Bücher