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Die Aufrichtigen (German Edition)

Die Aufrichtigen (German Edition)

Titel: Die Aufrichtigen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonard Bergh
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mehr die Berechenbarkeit des Glücks verschwand, desto mehr verlangten die Menschen nach Halt und Kontinuität, die sie in der alten Kirche zu finden glaubten. Die Religiosität wurde neu entdeckt. Selbst die Regierungen forderten die Rückbesinnung auf christliche Werte. Christlichkeit galt als Rezept für eine bessere Gesellschaft, die durch gottlose Interessen so weit heruntergekommen war. Doch dann erschütterte der Skandal um den Missbrauch von Kindern die Welt und die Kirche hat für einen schrecklichen Moment ihr wahres Gesicht gezeigt. Es wimmelt dort von alten Männern, die unbehelligt ihre perversen Triebe befriedigen. Und anstatt dass man diese Verbrecher vor den Richter zerrt, hat man sie über Jahrzehnte gedeckt, bis die meisten Taten verjährt waren. Die Kirche hat sich abgeschafft und braucht nun dringend ein Wunder, auf das sie ihre Daseinsberechtigung stützen kann. Oder warum, glauben Sie, wird der alte Papst gerade jetzt selig gesprochen?«
    »Ich habe mich auch gefragt, warum so viele Menschen daran Anteil nehmen.«
    »Wir sehnen uns alle nach Wundern und fürchten uns vor einer Welt ohne Gott. Denn für so eine Welt wären wir selbst verantwortlich.«
    Leo schwieg einen Moment. »Und das Fragment?«, fragte er dann.
    »Das Fragment des Ammianus passt genau dazu, weil es eine neue Diskussion über die Vormacht, die Unfehlbarkeit und die Göttlichkeit der Kirche auslösen wird. Die Kirche kann all jene Lügen strafen, die das je in Zweifel gezogen haben. Viele Kritiker werden ihre Aussagen revidieren müssen. Und selbst wenn nicht alle zu überzeugen sind, die Kirche wird bekommen was sie will. Für sie ist es schon genug, wenn man sie nicht widerlegen kann. Es ist eine günstige Stunde, sich alte Pfründe zurückzuholen.«
    »Sie meinen, dass das alles kein Zufall ist«, sagte Leo leise. »Aber wer denkt sich so etwas aus?«
    Julia warf ihm einen seltsamen Blick zu.
    »Diese Frage stelle ich mir schon mein ganzes Leben«, antwortete sie melancholisch. »Mein Vater hat zu allem, was die Kirche angeht, extreme Positionen vertreten. Deswegen bin ich oft mit ihm in Streit geraten. Vielleicht habe ich mich einfach nur nach ein wenig Normalität gesehnt. Es ist so verdammt schwer, anders zu sein. Ich bin nicht Historikerin geworden, weil mein Vater das wollte. Ich musste selbst herausfinden, was wirklich geschehen war. Ich hoffte, etwas zu finden, das ich der Bitterkeit entgegensetzen könnte.«
    »Und?«
    »Nichts und – das Experiment ist misslungen! Wenn mein Vater sich wirklich einmal geirrt hat, dann nur, weil die historischen Fakten selbst seine abgeklärten Vorstellungen übertrafen. Die Geschichte Europas ist die Geschichte der Kirche oder besser gesagt, die Kriminalgeschichte der Kirche. Es gibt praktisch kein Verbrechen, das nicht in ihrem Namen begangen worden ist. Vom einfachen Priester bis zum Kirchenfürsten gab es keinen, der nicht seinen persönlichen Vorteil zum allgemeinen Glaubenssatz erklärte hätte. All das, was wir als unsere Geschichte bezeichnen und als unsere Wurzeln verstehen, beruht auf immer demselben Irrsinn. Wir wurden Jahrhunderte lang getäuscht – können Sie sich vorstellen, wie wütend ich darüber bin?«
    In Leos Kopf hämmerte es.
    »Wir sind in einem Labyrinth aus Lügen gefangen. Aus diesem Labyrinth müssen wir entkommen, um einen neuen Anfang zu wagen«, sagte Julia.
    »Aber wie soll das gehen?«
    »Erst einmal jeder für sich, dann sehen wir weiter.«
    »Sie glauben also, dass Ihr Vater als Mitwisser beseitigt worden ist?«, fragte Leo nach einer Weile.
    »Das liegt für mich auf der Hand. Er war der einzige, der die Fälschung hätte aufdecken können. Wer weiß, vielleicht wollte er an die Öffentlichkeit gehen. Das Letzte, was die Kirche jetzt gebrauchen könnte, wäre ein neuer Fälschungsskandal.«
    »Klingt logisch, aber deswegen gleich einen Mord begehen?«
    »Es gibt genügend Beispiele in der Kirchengeschichte, wo aus weitaus geringerem Anlass getötet worden ist.«
    »Aber könnte es nicht auch ganz anders gewesen sein?«
    »Das müssen wir herausfinden«, entgegnete Julia entschlossen.
    »Warum überlassen Sie das nicht der Polizei?«
    »Die Polizei?«
    »Aber ja«, beharrte Leo. »Was sagt die Polizei zu Ihrem Verdacht?«
    »Ich habe noch mit niemandem darüber gesprochen. Kann sein, dass die Polizei den Täter findet, aber ich will wissen, wer dahinter steckt!«
    »Und was hat Dr. Albertz damit zu tun?«
    »Mein Vater hat mir gestern Nacht eine

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