Die Aufrichtigen (German Edition)
konnte schon wissen, was davon der Wahrheit entsprach? Außerdem war das alles furchtbar lange her. Verschwörungsgeschichten gab es nur in diesen Romanen, die seit dem Bestseller über den verborgenen Schatz des Templerordens unheimlich populär geworden waren. Was hatte er in einer solchen Trivialstory zu suchen. Er war doch nicht Robert Langdon!
»Sie fragen wirklich, welche Kirche?«
Julia sah ihn angriffslustig an.
»Ich meine, wer ist der Mörder? Es muss doch einen konkreten Täter geben.«
»Eben das möchte ich herausfinden. Deshalb bin ich hier. Geben Sie mir den Umschlag. Ich bin mir sicher, darin die Antwort zu finden.«
»Ich kann Ihnen den Umschlag nicht geben. Ihr Vater selbst hat mich beschworen, ihn nur Dr. Albertz auszuhändigen.«
»Ach was!«, rief Julia zornig. »Das spielt jetzt doch keine Rolle mehr! Der Mörder hat bestimmt nach diesem Umschlag gesucht. Als ich die Leiche meines Vaters heute Morgen fand, dachte ich sofort an Mord, verstehen Sie? Mein Vater hat einen Wandsafe in seinem Bücherregal, zu dem nur er einen Schlüssel hat. Jemand hat versucht, ihn aufzubrechen. Die Türplatte ist zerkratzt.«
Leo versuchte Zeit zu gewinnen. »Hat Ihr Vater Ihnen denn gesagt, was darin ist?«
»Sie sind wirklich völlig ahnungslos, nicht wahr?«, sagte Julia spöttisch, »Sie spielen das nicht nur.«
»Was meinen Sie damit?«
»Sie haben ja nicht einmal ein richtiges Büro«, fuhr Julia fort.
Leo stieg das Blut in den Kopf, seine Schläfen pochten.
»Verzeihen Sie, das hätte ich nicht sagen dürfen. Es ist nur — ich habe Sie für einen dieser fiesen Anwälte gehalten, die immer nur alles runterspielen wollen.«
Leo konzentrierte sich darauf, den nächsten Migräneschub abzufangen. Um einen Buchrücken hinter Julia im Regal zu fixieren, senkte er leicht den Kopf. ›Die Lateranverträge‹ las er. Diese kleine Bewegung interpretierte Julia als Nicken.
»Ich bin froh, dass ich mich getäuscht habe! Würden Sie mir helfen, bitte, allein schaffe ich das nicht. Helfen Sie mir, den Mörder meines Vaters zu finden.«
Leo war immer noch wie gelähmt. Vor seinen Augen vollzog sich alles in Zeitlupe. Er lächelte unsicher.
»Vor etwa zwei Wochen«, sagte Julia, »suchte ich Briefumschläge im Arbeitszimmer meines Vaters, um einen Beitrag für eine Fachzeitschrift zu versenden. Dabei entdeckte ich zufällig den Brief der Congregatio de Propaganda Fide. Irgend ein Sekretär des Präfekten bedankte sich darin für den unschätzbaren Dienst, den mein Vater der Kirche erwiesen haben soll. Er bot ihm eine Professur an der Hochschule für Philosophie der Deutschen Provinz der Gesellschaft Jesu an. Er sollte sich auf sein Spezialgebiet, die Spätantike, konzentrieren und vom Lehrauftrag entbunden werden. Zudem wurde er aufgefordert, beim Offizial des Kirchengerichts der Erzdiözese vorzusprechen, um die theologischen Voraussetzungen zu klären.«
»Theologische Voraussetzungen?«
»Ich habe keine Ahnung, was damit gemeint ist.«
»Haben Sie Ihren Vater darauf angesprochen?«
»Natürlich, aber es war rein gar nichts aus ihm herauszukriegen. Im Gegenteil, er war sehr heftig und es kam zu einem hässlichen Streit. Wir haben seither nicht mehr miteinander gesprochen.«
»Sie konnten sich nicht mit ihm aussprechen, ehe er gestorben ist?«
Julia nickte.
»Sehen Sie«, sagte sie leise, »das Verhältnis zu meinem Vater war immer schon sehr schwierig. Doch seine Unbeirrbarkeit und Aufrichtigkeit waren für mich bewundernswert. Daran habe ich mich festgehalten. Für ihn waren die kirchlichen Forschungseinrichtungen subjektiv und tendenziös, um nicht zu sagen unseriös. Mit der Widerlegung theologischer Thesen durch historische Tatsachen hat er sich einen besonderen Namen gemacht. Dabei kümmerte er sich nie darum, was seine Schriften anrichteten. Dass mein Vater für die Kirche gearbeitet haben soll, ist für mich unvorstellbar. Es ist, als wenn er mich betrogen hätte, verstehen Sie?«
»Ich glaube schon.«
»Natürlich habe ich mich damit nicht zufrieden gegeben. Ich habe eigene Recherchen angestellt und herausgefunden, dass er ein Gutachten über einen mysteriösen Dokumentenfund erstellt hat. Angeblich sollen in der vatikanischen Bibliothek Fragmente einer Biographie Kaiser Konstantins gefunden worden sein, an deren Existenz die Fachwelt bislang nicht geglaubt hat. Im späten 4. Jahrhundert, so die Legende, soll sie der römische Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus verfasst haben, der den
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