Die Aufrichtigen (German Edition)
Christen sehr kritisch gegenüber stand. Man bedauerte daher, die sagenhafte Biographie nicht zu kennen, weil man sich von ihr ein echtes, unverfälschtes Bild des Kaiser versprach. Die Geschichtsschreibung über Konstantin ist von der Kirche geschönt worden. So hat sich die Meinung festgesetzt, er sei der erste christliche Kaiser Roms gewesen. Mein Vater allerdings war, als einer der Wenigen, immer von der Existenz dieser Biographie überzeugt und glaubte, dass man sie in den Kellern der geheimen vatikanischen Archive versteckte.«
»Und diese Biographie ist nun aufgetaucht?«, fragte Leo.
»Angeblich ein kleiner Teil davon. Ausgerechnet die Episode an der Milvischen Brücke, wo Christus dem Kaiser erschienen sein soll und den Sieg versprach, wenn er das Christusmonogramm als Feldzeichen führen ließ.
»Und?«
»Was und? Konstantin besiegte Maxentius, seinen Mitkaiser im Jahr 312 vor Rom und wurde so zum Alleinherrscher über das weströmische Reich. Quasi im göttlichen Auftrag. Wenn das Fragment echt wäre, würde es beweisen, dass es sich bei der frommen Geschichte nicht nur um kirchliche Propaganda handelt.«
»Aber vielleicht ist Kaiser Konstantin wirklich bekehrt worden?«
Julia zog eine Augenbraue hoch.
»Die moderne Forschung weiß heute, dass Konstantin sich nicht auf den christlichen Gott berief, sondern auf den Sonnengott Sol Invictus, für den man übrigens ein dem Christusmonogramm sehr ähnliches Symbol verwendete.«
»Ist das denn so wichtig?«, fragte Leo.
»Aber ja!«, rief Julia aus. »Aus dem Ereignis an der Milvischen Brücke konstruierte die katholische Kirche ihren Herrschaftsanspruch über die Christenheit. Mit dem Mailänder Toleranzedikt aus dem Jahr 313 wurde die Verfolgung der Christen eingestellt. Von da an ging es mit der katholischen Kirche steil bergauf. Diesen Umschwung zugunsten der Christen nennt man die ›Konstantinische Wende‹.«
Leo kramte in seinem Gedächtnis. Er zuckte mit den Achseln, Geschichte war nie sein Fach gewesen.
»Die katholische Kirche beruft sich direkt auf Kaiser Konstantin. Er hat den Grundstein zu dem gelegt, was die Kirche heute ist: eine Staatskirche.«
»Aber was, um Himmels Willen, hat das alles mit diesem Gutachten zu tun?«
»Das Fragment, Herr Blum«, entgegnete Julia, »das ist katholische Methode! Religionen berufen sich immer auf Überlieferung zur Rechtfertigung der eigenen Lehre. Die katholische Kirche hat das perfektioniert und nicht selten nachgeholfen, wenn die Historie nicht zur Überlieferung passte.«
»Wie meinen Sie das schon wieder?«
»Sie hat die Geschichte gefälscht. Den Anspruch auf die politische Herrschaft über Italien und die Vorherrschaft über alle anderen Kirchen stützte sie Jahrhunderte lang auf die ›Konstantinische Schenkung‹, eine gefälschte Urkunde, mit der Kaiser Konstantin, angeblich aus Dank für seine Taufe, Papst Silvester über die anderen Bischöfe erhoben und mit kaiserlichen Insignien ausgestattet haben soll.«
»Und das Fragment des Ammianus bestätigt nun, dass Konstantin tatsächlich von Jesus bekehrt worden ist«
Julias Überlegenheit begann ihn zu überzeugen.
»Ganz genau! Aber es kommt noch besser. Der Wahnsinn ist, dass diese Bekehrungsgeschichte alles auf den Kopf stellt. Ausgerechnet ein heidnischer Geschichtsschreiber bestätigt sie, kein christlicher, dem man doch wieder nur Befangenheit vorgeworfen hätte.«
»Das verleiht der Sache natürlich eine größere Glaubwürdigkeit.«
»Und die Authentizität der Quelle wird nicht nur von einer Koryphäe auf dem Gebiet der Urkundendatierung bestätigt, sondern vom größten Kirchenkritiker der Gegenwart. Da kann einfach niemand mehr zweifeln!«
»Ihr Vater!«
Plötzlich sah Leo ein, dass alles nach einem abgekarteten Spiel aussah.
»Bis vor Kurzem erlebte die Kirche eine unvorstellbare Renaissance. Staatsführer besuchten den Papst und versprachen, das christliche Menschenbild in der europäischen Verfassung zu verankern. Auf dem Katholikentag zelebrierten hunderttausende junge Menschen ihren Glauben im Einklang mit der Kirche. Der Papst mischte sich in die Tagespolitik ein und machte sich zum Vermittler im Konflikt mit dem Islam. Die Menschen waren begeistert von der alten Kirche mit den reaktionären Hierarchien. Es schien, als sei aus dem zwanzigsten Jahrhundert nur eine einzige geistige Leere herübergerettet worden, ein existentielles Vakuum, das niemand zu füllen vermochte. Je mehr der Wohlstandsstaat sich auflöste, je
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