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Die Aufrichtigen (German Edition)

Die Aufrichtigen (German Edition)

Titel: Die Aufrichtigen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonard Bergh
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unsere Welt so ist, wie sie ist, warum wir Menschen sind, wie wir sind? Wenn du die Geschichte und besonders die Geschichte des Glaubens verstehst, verstehst du alles!«
    »Ich bin schon lange aus der Kirche ausgetreten«, sagte Leo, weil ihm nichts Besseres einfiel.
    »Und damit ist das Thema erledigt? So einfach ist das nicht! Es geht nicht darum, was du glaubst, es geht darum, wie die christliche Religion unser Leben und unsere Kultur bestimmt. Alles ist Religion, hat mein Vater immer gesagt.«
    »Glaubst du?«, fragte Leo nachdenklich.
    »Religion und Kirche prägen das Leben, auch wenn man nicht gläubig ist. Alle unsere Wertvorstellungen unterliegen dem Einfluss von Kirche und Religion, die Moral, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Wir feiern selbstverständlich religiöse Feste, lassen uns von den Kirchenglocken aus dem Schlaf reißen und nehmen hin, wenn Politiker behaupten, unser Land sei von der christlichen Leitkultur geprägt. Obwohl die Geschichte beweist, dass die christliche Kultur alles andere als homogen gewachsen ist, haben diese Leute auf merkwürdige Weise Recht. Nicht weil eine solche Leitkultur erstrebenswert wäre, sondern weil unser kulturelles Gedächtnis, unser Menschenbild und Selbstverständnis voll von religiösen Vorstellungen sind. Wir tragen die Religion mit uns herum, ob wir wollen oder nicht.«
    »Schon gut, du hast ja Recht«, gab Leo zu. »Dein Vater hat also erforscht, wie die Religion unser Leben beeinflusst?«
    »Ich würde sagen, er wollte wissen, warum Europa zum christlichen Abendland, warum der Bischof von Rom zum Papst und die Kirche die einflussreichste Einrichtung wurde, die es je gab. Die Christianisierung des Abendlandes war ein machtpolitisches Ziel, das erstmals Kaiser Konstantin systematisch verfolgte. Und dabei gehen die Meinungen noch heute auseinander, ob er deswegen als Heiliger oder als Verbrecher anzusehen ist.«
    »Aber er hat doch das Christentum zur Staatsreligion gemacht, dachte ich.«
    »So kann man das schon sehen. Immerhin hat er die Kirchen mit Privilegien ausgestattet, wie sie vorher nur die heidnischen Kulte und Tempel besaßen. Nach Jahrzehnten der Verfolgung bekamen die Christen ihren Besitz zurück, man erkannte die bischöflichen Herrschaftsgebiete an und die Kirchen erhielten den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts. Als dann das weströmische Reich von den Barbaren hinweggefegt wurde und die Eroberer sich in inneren Machtkämpfen zerfleischten, trat die Kirche in die Fußstapfen des ehemals unbesiegbaren Imperium Romanum. Sie wurde zur staatstragenden Einrichtung. Mit Kaiser Konstantin ist der Klerus als neue Elite entstanden, das antike System von Ausbeutung und Unterdrückung aber ist geblieben und der Klerus profitiert bis heute davon.«
    »Die Kirche war also zur richtigen Zeit am richtigen Ort«, sagte Leo.
    »Kaiser Konstantin wird vielfach vorgeworfen, die alte Kirche missbraucht zu haben, um an die Macht zu kommen«, entgegnete Julia. »Es ging ihm gar nicht um den Glauben, die Christen waren nur willkommene Helfer.«
    »Aber ist es nicht völlig belanglos, ob dieser Kaiser Christ gewesen ist oder nicht?«
    »Versteh‘ doch, Leo, es geht um die Legitimation von Macht. Kaiser Konstantin hat der Kirche die Hand gereicht. Militärische Überlegenheit und moralische Anmaßung sind ein enges Bündnis eingegangen. Versuche einmal die Ereignisse des frühen 4. Jahrhunderts aus heutiger Sicht zu interpretieren. Du wirst sehen, dass die Rechtfertigung von Macht noch immer auf dieselbe Weise funktioniert. Wer die Ehrenhaftigkeit Konstantins in Frage stellt, zweifelt letztlich an der Rechtmäßigkeit von Herrschaft, wie wir sie kennen.«
    »Jeder Herrscher beruft sich also auf Gott oder zumindest die Überlegenheit seines eigenen Weltbildes, weil er sonst seine Gegner nicht ausschalten oder gegen andere Krieg führen könnte. Habe ich das richtig verstanden?«
    Julia nickte.
    »Für mich waren die Urchristen Fanatiker, Terroristen, wie man heute sagen würden. Sie nahmen die Prophezeiung des Alten Testaments wörtlich und waren davon überzeugt, dass Jesus von Nazareth der Messias war. Seine Abstammung von König David ist sicherlich kein Zufall. Alle Evangelien erzählen, dass er beim Verhör von Pilatus gefragt wurde, ob er der König der Juden sei. Jesus hat es bestätigt. Die Juden lebten damals in dem Glauben, das auserwählte Volk zu sein, die Inbesitznahme und Verteidigung des gelobten Landes, in das Moses sie

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