Die Aufrichtigen (German Edition)
geführt hatte, war ein wesentlicher Bestandteil ihrer Kultur. Die Römer kümmerten sich anfangs nicht darum, denn sie mischten sich normalerweise nicht in die lokalen Herrschaftsstrukturen ein. Es waren die Juden selbst, die Jesus am Kreuz sehen wollten. Vielleicht ist er zwischen die Räder geraten, vielleicht hat sich der Zorn irgendwann gegen ihn gerichtet, weil er nicht radikal genug war, weil er den Thron nicht wirklich bestieg. Und vielleicht wollte die Herrscherklasse durch seine Hinrichtung verhindern, dass er zum Anführer eines neuen Aufstandes wurde, der sich nicht nur gegen die Römer gerichtet hätte. Nach der Hinrichtung waren die Jünger völlig verzweifelt. Sie hielten sich versteckt. Allerdings wurden sie nicht von den Römern, sondern von ihren eigenen Landsleuten verfolgt.«
»Und die Auferstehung, das Reich, das nicht von dieser Welt sein soll?«, fragte Leo, dem plötzlich klar wurde, wie plausibel die Jesusgeschichte klang, wenn man sie ohne das religiöse Brimborium hörte.
»Sicher ist, dass es keine reale Auferstehung gibt. Aber so ein Mythos ist taktisch sehr geschickt, wenn man keine Argumente und keinen Einfluss besitzt. Man hat Jesus damit jeder Kritik enthoben, ohne irgend einen Beweis erbringen zu müssen. Der Glaube an Wunder und Gotteszeichen ist typisch für Umbruchzeiten. Alle paar Meter kündigte ein Prophet den Untergang der Welt und andere Schrecknisse an. Das Christentum bot für jeden einen Ausweg, der mit seinem Leben unzufrieden war. An der Hoffnung auf die Auferstehung in einer besseren Welt, kann sich jeder aufrichten!«
»Die Urchristen sind also gar nicht wegen ihres Glaubens verfolgt worden, sondern weil man sie für Revolutionäre hielt?«
»Das würde ich nicht trennen. Die Christen waren die Hoffnungsträger für die einfachen Leute, weil sie ihnen eine gerechte Welt versprachen. Stell dir vor, der allergrößte Teil der Menschen hätte keine Rechte. Eine extreme Partei bräuchte nur eine so noch nie da gewesene Gerechtigkeit versprechen und hätte leichtes Spiel. Erstaunlich, dass dieser Unsinn immer noch funktioniert. Man darf nicht übersehen, dass viele Bischöfe in der Anfangszeit universell gebildete Männer waren. Die neue Religion war ein Schmelztiegel für alle kritischen Denker, Umstürzler und Extremisten, gleich welcher Couleur. Der Glaube an ein besseres Leben und die Gefährdung des hergebrachten Systems gehören für mich untrennbar zusammen. Wirklich erstaunlich ist aber, dass ein römischer Kaiser sich ausgerechnet solcher Leute bedient hat!«
»Warum hat er das getan? Warum hat Kaiser Konstantin die Christen gefördert?«, fragte Leo.
»Wegen seiner illegitimen Herkunft. Er war der Sohn eines Unterkaisers und einer Wirtstochter, und ist einfach auf eine untergeordnete Position gesetzt worden. Doch er konnte sich mit der Regelung der Thronfolge durch Kaiser Diokletian nicht abfinden, er wollte alleine herrschen. Deshalb führte er Krieg gegen alle, die sich ihm in den Weg stellten. Er ließ sogar seine Lieblingsfrau und seinen Sohn ermorden, weil er sie verdächtigte, in ein Komplott gegen ihn verwickelt zu sein.«
»Er hat also rechts überholt?«
»Für gewöhnlich beschäftigt man sich mit militärischen Erfolgen, wenn es um die Beurteilung eines Herrschers geht. Mich aber interessiert, wie Konstantin sein Vorgehen sittlich gerechtfertigt hat — vor der Welt und vor sich selbst. Er hat das Christentum, die Religion der Außenseiter, für sich entdeckt und alles darin gefunden, was er brauchte. Dabei war der Bruch mit der alten Götterwelt weitaus weniger radikal, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Konstantin ist im Glauben an den Sonnengott Sol Invictus aufgewachsen. Plotin und die philosophische Schule der Neuplatoniker hatten für den Monotheismus längst eine breite Grundlage geschaffen. Viele ihrer Lehren sind direkt ins Christentum eingeflossen. Die christlichen Gelehrten gehörten damals zur ideologischen Elite. Es war ein kluger Schachzug, sich bei den Christen moralischen Rückhalt zu suchen. Der Rest ist bekannt. Er sicherte sich ihre Loyalität, indem er ihnen Rechte einräumte und Geschenke machte.«
»Aber warum konnte er sich nicht auf die alten Götter berufen, so wie die anderen Kaiser vor ihm auch?«
»Das war nicht möglich, weil er sich offen über die von Kaiser Diokletian verfügte Thronfolge hinwegsetzte. Damit musste er notwenig auch mit den alten Göttern brechen, denn Diokletian machte sich zum Spross der
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