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Die Aufrichtigen (German Edition)

Die Aufrichtigen (German Edition)

Titel: Die Aufrichtigen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonard Bergh
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Gescheiterten, die Hoffnung der Unterdrückten, massenwirksam, schlicht und plakativ. Gerechtigkeit für alle!
Die antike Welt war alles andere als gerecht. Was hat sich durch das Christentum geändert?
E.A.S.

Feria quarta, 13 Uhr 36; Leo stürzt
    »Wo ist Blum?«
    Keine Antwort. Dr. Albertz‘ Schritte hallten im Foyer.
    »Verdammt noch mal, wo ist Blum?«
    Der Archivraum mit den grauen Schiebeschränken voller abgelegter Akten glich einer Falle und Leo war die Maus darin. Julia Spohr hatte ihn in seiner einstudierten Bedeutungslosigkeit aufgescheucht. Ihre Festigkeit erschütterte ihn, ihr Schicksal, dem zu beugen sie sich weigerte. Und er? Er war zu feige gewesen, sie vor dem Chef in Schutz zu nehmen, hatte noch nicht einmal zu sagen gewagt, dass der Professor tot war. Selbstgewählte Passivität, überlegene Distanz! Von wegen! Sich nur ja nicht festlegen, nur ja nichts zu Ende denken! Wie kann man denn leben, wenn man sich für seine Träume schämt! Gleich würde Dr. Albertz hereinkommen, ihn herunterputzen und mit einer würdelosen Zuarbeit beauftragen. Er würde ihm den Umschlag abnehmen und darüber nachdenken, wie er am Besten einen Haufen Geld daraus machen könnte. Wie gut, wenn einem gesagt wird, was richtig und falsch ist! Man überschreitet gewisse Grenzen nicht. Was gibt es Bequemeres, als Tabus!
    Doch jetzt hielt Leo diesen Umschlag in den Händen, in dem vielleicht ein winziges Körnchen Wahrheit steckte, ein winziges Stück einer anderen Wirklichkeit, die nicht heil, sondern unendlich kompliziert, in Schuld und Schicksal verstrickt war. Jedes Ding dort hätte mindestens drei Seiten oder fünf und selbst das noch so Gute wäre schrecklich auf den vielen anderen. Alles geschähe zum eigenen Vorteil, und sei es nur des besseren Gefühls wegen. Homo homini lupus est, der Mensch ist der Wolf des Menschen. Kaum mehr als eine schauerliche Ahnung, der nachzugehen man sich einfach weigert. Die Wut stieg in ihm hoch, die Wut darüber, systematisch belogen und betrogen worden zu sein, eine heilige Wut, die sich irgendwann gegen einen selbst richtet, wenn man ihr nicht rechtzeitig Luft verschafft.
    Es war wie damals, als er nach der Beerdigung den Schreibtisch seines Großvaters durchsuchte, weil er Gewissheit haben musste. Er hatte seinen Großvater geliebt, war stolz auf ihn und seine Geschichten vom Krieg. Wie alle Großväter war er als einziger nicht in der Partei gewesen. Leo bewunderte ihn dafür und war froh, die unvorstellbare Grausamkeit dieser Zeit nur aus der Enkelperspektive zu kennen. Dennoch meldeten sich immer wieder Zweifel, die Erzählungen seines Großvaters gaben keinen Sinn. Wie konnte das alles geschehen, wenn sich alle im geheimen Widerstand befanden? Warum fragte niemand nach den Nachbarn, bei denen man gestern noch eingekauft hatte? Warum hatte sich keiner über die Sachen gewundert, die man unter der Bevölkerung verteilte, Möbel, Schuhe, Kleidung? Berge davon! Natürlich fand Leo das rosa Heftchen und entzifferte die altdeutsche Schrift. Der Mitgliedsnummer nach zu urteilen, war sein Großvater einer der Ersten im Ortsverband der NSDAP gewesen. Der schnelle Wiederaufstieg aus dem Inferno, das reine Gewissen der Befreiten, das Wirtschaftswunder: All das beruhte auf einer Kultur des Verschweigens und der Lüge, die das leichenübersäte Land wieder stark und wohlhabend machte. Das Unrecht in den Herzen wurde wie das Blut an den Händen niemals gesühnt. Der Stolz seiner Kindheit war dem Gefühl gewichen, bitter getäuscht worden zu sein. Großväter überleben in dem, was sie ihren Enkeln erzählen, weil die es an ihre Kinder weitergeben. Ihre Geschichten machen sie unsterblich. Doch was, wenn die Geschichten falsch sind? Es ist so schwer, zu unterscheiden. Wie kann man glauben, wenn es kein Vertrauen gibt? Lügner geben nichts weiter, auch nicht das Aufrichtige. Wer lügt wird nicht unsterblich.
    Beruhte nicht auch die Macht der Kirche auf derselben Verlogenheit? War es nicht genau das, was Julia meinte? Auch Christen verurteilen die Verbrechen der Kirche, aber wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen, so ist es keiner gewesen. Pädophile Priester können unbehelligt weiter schänden. Ihre Vorgesetzten sehen weg und werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Von wegen innere Reinigung der Kirche! Keine Hilfe für die Opfer, keine Strafe für die Täter. Nur abgerungene Lippenbekenntnisse alter Männer, wenn die besudelten Schwänze nicht länger unter der Kutte versteckt werden

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