Die Aufrichtigen (German Edition)
Job verloren habe.«
Er versuchte zu Lächeln.
»Was ist mit deinem Kopf? Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?«
»Nein ich habe nur Migräne, schon den ganzen Tag.«
Leo hob seine Notebooktasche auf.
»War wirklich nicht so schlau, mit dem Umschlag auf die Straße zu rennen!«
»Was soll das jetzt heißen? Ich wollte Ihnen den Umschlag geben, verdammt noch mal! Woher soll ich wissen, dass die ganze Welt scharf darauf ist?«
Er drehte sich einmal im Kreis.
»Ich bin so ein Idiot!«
»He, komm wieder runter. Du kannst ja nichts dafür. Ich bin selbst überrascht, wie dicht sie mir auf den Fersen sind.
»Tut mir wirklich leid, Frau Spohr«, sagte Leo, »ich—«
»Nenn‘ mich einfach Julia.«
»Julia? Gut, ich heiße Leo.«
»Kommt das von Leonhard?«
»Nein, von Leander.«
»Was für ein schöner Name.«
»Sagen wir eher, abgefahren. Wenn man Leander heißt, sucht man sich am Besten einen Boxer als Freund, sonst wird man dauernd verhauen. Ich suche noch, wie du siehst.«
Julia lachte.
»Wir müssen die Polizei —«, begann Leo.
»Ja sicher«, schnitt Julia ihm das Wort ab. »Jetzt lass uns erst mal von der Straße verschwinden. Ich glaube, um die Ecke ist ein Café.«
»Die Polizei redet nicht mit mir«, sagte Julia, als sie sich bei Starbucks gegenüber saßen. »Die wollen erst das Obduktionsergebnis abwarten.«
Der Milchkaffee in den Pappbechern war viel zu heiß. Auf Leos Becher stand ›Georg‹, weil der Typ an der Ausgabe seinen Namen nicht richtig verstanden hatte.
»Ich könnte anrufen und Auskunft verlangen. Was hältst du davon?«
»Echt?«
»Immerhin bin ich Rechtsanwalt, schon vergessen? Hast Du eine Nummer?«
Julia gab ihm den Zettel, den man ihr heute Morgen gegeben hatte.
»Hab‘ ich von einer Polizistin bekommen.«
»Weißt du ihren Namen?«
»Keine Ahnung.«
»Egal, ich frag‘ mich schon durch.«
»Ich bin mir sicher, dass es Mord war!«, sagte Julia, »Ganz sicher.«
Leo verzog das Gesicht.
»Mein Vater hat der Kirche alles zugetraut. Jetzt weiß ich warum!«
»Erzähl‘ mir davon, erzähl‘ mir von deinem Vater.«
»Er war ein außergewöhnlicher und anstrengender Mann«, begann Julia zögernd, »das ist mir erst richtig klar geworden, als ich anfing, für ihn zu arbeiten. Er sagte immer, man müsse Mut haben, um ohne Glauben zu leben. Erst allmählich habe ich verstanden, was er damit meinte. Ich weiß nicht genau, wie er darauf gekommen ist, sich mit Kirchengeschichte zu befassen. Ich weiß nur, dass es Anfang der achtziger Jahre einen Skandal gegeben hat, über den niemand sprechen durfte.«
»Was hat dein Vater angestellt?«
»Ich habe ein wenig recherchiert, aber nicht viel herausgefunden. Das alles muss mit einem Buch zusammenhängen, das nie veröffentlicht wurde. Bis dahin war mein Vater ein angesehener Historiker, galt als Koryphäe für die Epoche der Spätantike. Aber aus irgend einem Grund hat er seinen Weg verlassen und wollte von Forschung und Karriere nichts mehr wissen. Er emeritierte und durchstöberte seither die dunkle Geschichte der Kirche, ihre Kriminalgeschichte, wie er sagte. Mehr weiß ich nicht. Ich habe mich nie getraut, ihn zu fragen und meine Mutter starb an Krebs, als ich noch ganz klein war.«
»Dein Vater hat seinen Lehrstuhl aufgegeben, um sich mit den unschönen Seiten der Kirchengeschichte zu befassen?«
»Das war nicht nur Geschichte für ihn. Es ging um Aufrichtigkeit. Er war davon überzeugt, dass wir die christliche Lehre heute gar nicht mehr kennen, weil die Kirche ihre Überlieferung über Jahrhunderte verfälscht hat. Sie verwaltet seit zweitausend Jahren die Botschaft Jesu‘ und womöglich ist vom Original nichts mehr übrig geblieben. Ich weiß nicht, wie oft mein Vater nachgewiesen hat, dass die Kirche Lügen verbreitete, um die eigene Position zu verbessern. Niemand weiß mehr, was von Jesus Christus stammt und was kirchliche Propaganda ist. Deshalb muss man sich entscheiden, sagte mein Vater, für die Kirche oder für ein Leben ohne Glauben, wenn man den Mut dazu hat.«
»Wieso Mut? Was spielt es heute noch für eine Rolle, ob man gläubig ist oder nicht? Die große Zeit der Kirche war doch das Mittelalter!«
»Geschichte ist wohl nicht deine Stärke!«
»War nicht gerade mein Lieblingsfach.«
»Geschichte, Leo, ist die aktuellste Wissenschaft überhaupt. Sie weist in die Zukunft. Wenn du verstehen willst, wohin wir uns entwickeln, musst du verstehen, woher wir kommen. Hast du dich nie gefragt, warum
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