Die Aufrichtigen (German Edition)
Jupiterfamilie, leitete seine Macht also direkt vom wichtigsten der alten Götter ab. Was lag für Konstantin näher, als seine Machtansprüche auf ähnliche Weise zu rechtfertigen? Mit dem Angriff auf die von Diokletian gewollte Herrschaftsform, stellte er alles in Frage, was den Menschen damals heilig erschien. Er brauchte also eine neue, überlegene Religion.«
»Ich bin wirklich beeindruckt, was du alles weißt«, sagte Leo. »Aber ich verstehe nicht, was daran so wichtig ist.«
»Konstantin der Große ist für unsere abendländische Kultur vielleicht die wichtigste Person. Es ist unglaublich viel über ihn geforscht und geschrieben worden. Er verstaatlichte die Kirche und legte damit den Grundstein für den ewigen Konflikt zwischen Kirche und Staat, der Europa jahrhundertelang zerfleischte. Damals zerbrach die Einheit von Glaube und Kirche, weil die Religion zum Machtinstrument wurde, in dem die Menschen ihre Sehnsucht nach Spiritualität immer weniger wieder fanden.«
»Dann müsste man eher ›Verkirchlichung des Staates‹ sagen, ich habe verstanden«, warf Leo ein. »Es gibt keine neutrale Überlieferung der christlichen Lehre, sondern alles wird im Sinne der ständig wechselnden herrschenden Meinung so lange gedreht und gewendet, bis es passt.«
»Und die christliche Lehre eignet sich hervorragend dafür«, bestätigte Julia. »Der Glaube der Urchristen war universell und an keine regionale Verwurzelung oder Volksgruppenzugehörigkeit gebunden. Jeder konnte Christ werden, egal wo er zu Hause war. Seit dem ersten Jahrhundert flossen alle wichtigen philosophischen Strömungen ein, man war offen für das gesamte Wissen der Welt. In dieser fanatischen Gruppierung hat Konstantin alles gefunden, was er zur Rechtfertigung seines Weges brauchte. Wie hart der Bruch Konstantins mit dem alten System war, zeigt der Bau Konstantinopels.«
»Du meinst, er hat seine eigene Stadt gebaut, weil er nicht an die römische Tradition anknüpfen wollte?«
»Genau das meine ich. Es war schon seit der hellenistischen Zeit Tradition, an Orten großer Siege Städte zu gründen. Insoweit wäre an Konstantinopel also nichts Außergewöhnliches. Dennoch steckt mehr hinter dieser Stadt. Anders als sonst wurde keine gewöhnliche Kleinstadt geplant, sondern eine Metropole, die darauf ausgelegt war, das einzigartige Rom zu übertreffen. Rom war zu eng für neue Kaiser. Es war voll von Tempeln und Triumphbögen, Siegessäulen und Prunkbauten vorangegangener Herrscher. Niemand hatte es bisher gewagt, nicht an dieser heiligen Traditionen anzuknüpfen. Konstantin aber legitimierte seine Herrschaft ganz aus sich selbst heraus. Nur in einer neuen Hauptstadt konnte er sicher sein, nicht ständig mit den ausgerissenen Wurzeln konfrontiert zu werden. Er nannte sich den größten Kaiser aller Zeiten und verhöhnte seine Vorgänger mit Spottnamen.«
»Und die Christen lieferten ihm den ideologischen Unterbau, weil keine Herrschaft von Dauer ist, die sich allein auf Gewalt gründet«, sagte Leo.
Julia nickte: »Das alte System, das sich über die alten Götter definierte, wurde von Konstantin brutal ausgerottet. Aber er hat das Schema nur modifiziert und den Christengott an die Stelle der alten Götter gestellt. Im Übrigen blieb alles beim Alten. Wie Diokletian sich zum Abkömmling Jupiters erklärte, wurde Konstantin zum Stellvertreter Christi auf Erden. Es sind einige seiner Schriften überliefert, in denen er sich über die Bischöfe stellt und in seinem Grabmal soll sein Sarkophag von denen der zwölf Apostel umringt gewesen sein. Ich denke, das kann kaum missverstanden werden.«
»Du denkst also, Kaiser Konstantin hat die Christen benutzt, um seine Herrschaft zu legitimieren. Sie haben sich einspannen lassen und wurden von der Macht verführt. Aus den Unterdrückten sind Unterdrücker geworden. Es gibt keinen unschuldigen Glauben mehr, das Wort Gottes ist zur politischen Posse verkommen.«
Leo lachte, manchmal war er wirklich brillant.
Julia holte tief Luft.
»Ich weiß es nicht, Leo. Mein Vater muss Kaiser Konstantin als ein Symbol des Sündenfalls des Glaubens angesehen haben. Er wollte herausfinden, wie es dazu gekommen ist. Ich denke, dass ich erst verstehen kann, wer mein Vater war, wenn ich diese Frage beantwortet habe.«
»Wie willst du das anstellen?«
Julia zuckte mit den Achseln.
»Glaubst du, dass man mit Dr. Albertz noch einmal reden könnte? Er muss irgend etwas wissen, er kann doch nicht —«
»Doch, er kann«,
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