Die Aufrichtigen (German Edition)
Koordinate eines Grabes«, sagte Leo so sanft er konnte.
»Hör‘ auf!«, schrie Julia und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Leo ging langsam auf sie zu, berührte sie erst am Arm, dann an der Schulter und schloss sie in seine Arme. Sie wehrte sich kaum, er strich ihr über den Rücken. Sie weinte hemmungslos, als sie sich an ihn presste.
Nach einer Weile machte sie sich los. Ihre Augen glänzten.
»Das Fatschenkind«, sagte sie leise, »ist meine kleine Schwester, nicht wahr?«
Leo sah sie nicht an.
»Sie ist ungetauft gestorben«, fuhr Julia fort, »und meine Mutter hat nach katholischem Brauch das Fatschenkind gemacht.«
Er nickte langsam.
»Ich habe Angst, Leo. Ich habe keine Ahnung, was als Nächstes kommt.«
»Wie meinst du das?«
»Ich bin die Einzige aus meiner Familie, die noch lebt.«
Leo schloss die Augen.
Vom Taschenspieler zum Gottessohn
Die wahre Lehre Jesu‘ zu finden, erinnert an die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wie ein Meisterwerk, das von unzähligen Könnern und Stümpern, großen und kleinen Geistern, bis zur Unkenntlichkeit übermalt worden ist. Die Kunst sei es, so heißt es, das Original, den wahren Meister, unter all den Schichten zu entdecken.
Auf der Suche nach der wahren Lehre stößt man zwangsläufig auf Jesus als historische Figur. Neben Zweifeln an seiner Existenz, gibt es viele Erklärungsversuche. Abgesehen von der Gottessohngeschichte ist die des Revolutionärs, des Aufwieglers gegen die römische Besatzungsmacht die Beliebteste.
Der Neuplatoniker Celsus aber erzählt eine ganz andere Geschichte. Es sei bekannt, so schreibt er, dass Jesus der Sohn Marias aus Nazareth sei, die mit einem Schreiner verheiratet war. Allerdings sei er nicht der Sohn des Schreiners gewesen, sondern der eines römischen Soldaten, ein Kind der Schande. Maria sei mitsamt ihrem Bastard von Josef verstoßen worden und nach Ägypten geflohen. Jüdinnen, die sich mit den römischen Besatzern eingelassen hatten, mussten aus einem Land fliehen, wo schon Frauen gesteinigt wurden, die mit anderen Juden die Ehe brachen. In Ägypten, so Celsus weiter, hätte Jesus sich mit Taschenspielereien über Wasser gehalten, und sei bei Magiern, Mystikern und Zauberern in die Lehre gegangen. Dort habe er die Kunststücke gelernt, nach denen die Menschen damals verrückt waren. Später sei er mit einer Gruppe Taugenichtse durch Palästina gestreunt, bis er dann in Jerusalem festgesetzt und – zurecht, wie Celsus meint – den schändlichen Tod am Kreuz gestorben sei.
Wer ›Celsus Wahres Wort‹ liest, oder besser gesagt, die Rekonstruktion von Dr. Theodor Keim, einem Theologieprofessor aus dem 19. Jahrhundert, versteht, dass seine Schriften auf Befehl Kaiser Konstantins verbrannt worden sind.
E.A.S.
Gründonnerstag, 15 Uhr 34; die Obduktion
Sophie Kolb war schlechter Laune, als sie nach der Obduktion des Professors das Gebäude der Gerichtsmedizin verließ. Sie ärgerte sich über ihren Chef, den Kommissar, für den die Todesursache bereits feststand. Er zeigte kein Interesse an den Ungereimtheiten, auf die Sophie ihn hingewiesen hatte. Die Würgemale am Hals des Professors waren doch viel zu schwach ausgeprägt! Wieso machte er keinen Druck beim Laborbericht? Natürlich, in ein paar Tagen war Ostern und die Leute hatten Besseres zu tun, als sich mit den fixen Ideen einer Anwärterin herumzuschlagen! ›Sie müssen noch viel lernen, Frau Kolb‹, hatte er vor versammelter Mannschaft gesagt, ›bis dahin halten Sie sich an die Vorschriften.‹ Arschloch, verdammtes Arschloch! Irgendwann würde sie es allen beweisen, irgendwann würden diese phantasielosen Beamten einsehen, dass man mit Intuition weiter kommt, als mit dem sturen Befolgen von Regeln.
Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken.
»Hallo, was gibt‘s denn«, fragte sie genervt.
»Guten Tag, hier spricht Rechtsanwalt Leo Blum. Ich rufe wegen Professor Spohr an. Ich vertrete seine Tochter. Sie hat mir diese Telefonnummer gegeben. Ich wollte mich nach dem Stand der Ermittlungen erkundigen.«
»Leo Blum, etwa der Leo Blum?« Sophies Stimmung änderte sich schlagartig.
»Wie bitte?«
»Na, der berühmte Anwalt.«
Leo wusste, dass das ein Witz war, den er nicht verstand. Er konnte nichts erwidern.
»Mann Leo, hier ist Sophie, deine Sophie. Kannst du dich wirklich gar nicht mehr an mich erinnern?«
Jetzt durchfuhr es ihn wie ein Stromschlag. Sophie! Warum hatte er nicht sofort ihre Stimme erkannt?
»Mein Gott, wie geht es dir,
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