Die Aufrichtigen (German Edition)
M, Z und D, glaube ich. Die Zahlen habe ich nicht gesehen. Vielleicht waren es drei.«
Leo stand langsam auf.
»Was hat der Kerl hier gesucht?«, fragte er.
»Er ist der Mörder meines Vaters!«
Am Treppenabsatz im Wohnzimmer lag ein Becher aus Ton. Der Fuß war abgebrochen.
»Er muss vorhin die Treppe hinunter gefallen sein«, sagte Leo, als er die Scherben aufhob.
»Glaubst du, er wollte ihn mitnehmen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass er heute morgen auf dem Schreibtisch meines Vaters stand.«
»Wahrscheinlich ist er diesem Verbrecher aus der Hand gefallen, als er mich geschlagen hat. Tut höllisch weh!«
Leo rieb sich das Kinn.
»Wir müssen die Polizei informieren«, fügte er hinzu.
»Dafür ist immer noch Zeit.«
Sie rannte die Treppe hinauf. Leo roch an dem Becher. Ein bitterer Gestank strömte ihm entgegen, eine Mischung aus Hustensaft und Mäusedreck. Er verzog das Gesicht und dachte an Mirto, den sardischen Kräuterlikör.
»Oh mein Gott«, rief Julia oben, »was geht hier bloß vor!«
Leo fand sie im Arbeitszimmer ihres Vaters. Auf dem Fußboden lagen Bücher verstreut. Der Fremde musste sie aus den Bücherregalen gerissen haben. Leo überflog ein paar Titel, ›Kriminalgeschichte des Christentums‹, ›Die Politik der Päpste im 20. Jahrhundert‹, ›Der gefälschte Glaube‹. Julia kniete vor einem etwa einen halben Meter langen und einen viertel Meter breiten gläsernen Schrein. Die Verstrebungen und die Bodenplatte waren aufwendig mit Goldfarbe und Blumenornamenten bemalt. Eine Borte aus kleinen weißen Perlen verzierte den Rahmen. Darin lag eine Säuglingspuppe. Sie war in Windeln gewickelt und auf ein mit Goldfäden durchwirktes Samtkissen gebettet. So etwas hatte Leo noch nie gesehen. Eine Puppe hinter Glas! Und was war das überhaupt für ein abstoßender Gestank im Zimmer?
»Ist das Leichengeruch?«, fragte Julia. »Ist mir heute Morgen schon aufgefallen. Riecht der Tod wirklich so modrig?«
»Nein, Julia«, entgegnete Leo, »Leichen riechen anders. Ich war mal bei einer Obduktion, so etwas vergisst man nicht. Das ist eher abgestandener Weihrauch.«
»Weihrauch? Wieso soll es im Arbeitszimmer eines Kirchenkritikers nach Weihrauch riechen?«
Doch noch ehe Leo antworten konnte, gab sie sich selbst die Antwort: »Natürlich! Das beweist alles! Mein Vater ist Opfer eines religiösen Fanatikers geworden. Die ganze Inszenierung, das Kruzifix auf dem Stuhl, die aufgeschlagene Bibel! Es ist wie ein böser Traum!«
»Hat dein Vater geraucht?«
»Nein, wie kommst du darauf?«
»Dann ist das die Asche des Weihrauchs«
Er beugte sich über einen Unterteller, der auf dem Schreibtisch stand und sog vorsichtig die Luft ein.
»Riecht auch so.«
»Dieser Schrein ist heute morgen noch nicht da gewesen!«, sagte Julia. »Ich habe ihn noch nie im Haus gesehen.«
»Was ist das überhaupt für ein Ding? Sieht aus wie ein kitschiges Jesuskind.«
»Das ist ein Fatschenkind. So etwas wurde im Mittelalter den Novizinnen mit ins Bett gegeben. Sie waren die Bräute Christi und Bräute haben Kinder. Der Katholizismus hat die haarsträubendsten Rituale hervorgebracht. Der Name kommt vom lateinischen Wort für Windel. Sicher ist das auch eine Anlehnung an das Jesuskind in der Krippe im Lukasevangelium. Ich weiß leider nicht viel über christliche Symbolik, aber solche Fatschenkinder werden noch heute von frommen Katholiken hergestellt oder restauriert, wenn ein schreckliches Ereignis eine Familie heimsucht. Was der Schrein hier soll, kann ich mir beim besten Willen nicht erklären. Ich würde ihn für einen makaberen Scherz halten, wenn mir nicht klar wäre, dass er mit dem Tod meines Vaters zu tun haben muss.«
»Glaubst du wirklich?«
»Was soll ich denn sonst glauben?«
Nachdem Leo den Kasten eingehend betrachtet hatte, legte er ihn vorsichtig auf die Seite. Die Unterseite war mit einem kleinen Scharnier und einem Schloss versehen. Er pfiff durch die Zähne.
»Er ist unten abgeschlossen. Hat vielleicht einen doppelten Boden. Glaubst du, der Mörder hat den Schlüssel gesucht?«
»Hier?«
»Warum nicht. Komm, lass uns sehen, ob wir ihn finden.«
Julia machte sich mechanisch daran, das Zimmer abzusuchen.
»Sieh mal«, sagte sie, »hier ist das geheime Fach, von dem ich dir erzählt habe. Es ist offen.«
»Leer!«, bemerkte Leo.
Um das Fach herum fehlten die Bücher.
»Weißt du, was ich glaube, Julia?«
»Was denn?«
»Das Fatschenkind gehört in das Geheimfach!«
Julia sah ihn
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