Die Aufrichtigen (German Edition)
in der Mauer.
»Verdammte Scheiße!« Leo setzte sich in Bewegung. Von nun an gab es kein Zurück mehr. Bald sah er hinter einer Menge Unkraut die Öffnung, in der Julia verschwunden war.
»Komm, das ist der Schacht zum Kohlenkeller. Du kannst einfach herunter rutschen.«
Leo zögerte nicht mehr. Er hatte auf einmal verstanden, dass die Welt viel mehr war, als er sich bisher vorzustellen gewagt hatte. Alles hing auf schreckliche Weise zusammen und nicht einmal die schlimmsten Ahnungen reichten an das heran, was wirklich geschah. Nichts war ohne das Vorherige verständlich und das Frühere nicht ohne das davor, immer so weiter in einem irrsinnigen Wettlauf, nur um sich irgendwann einzuholen und noch entsetzlicher zu übertreffen. Wann hatte das alles diese wahnwitzige Richtung eingeschlagen? Und was war davor?
Wie ein Einbrecher, der sich in ein fremdes Haus stiehlt, um etwas zu finden, was nicht für ihn bestimmt ist, kroch Leo durch den Schacht. Und wie ein Kind, das sich im einen Augenblick noch nicht vorstellen kann, groß zu werden, und schon im nächsten nicht mehr versteht, dass es einmal klein gewesen ist, verwandelte er sich. Warum wurde die Frucht vom Baum der Erkenntnis immerzu verboten? Da war wieder diese Wut, die Wut darüber, sich die Welt erst in einem schmutzigen Schacht erkriechen zu müssen und dabei den guten Anzug zu ruinieren. War nicht der Professor auf der Suche gestorben? Leo würde sich vorsehen.
»Willkommen in den verbotenen Räumen«, sagte Julia mit zweideutigem Lächeln.
»Wo, zum Teufel, sind wir hier?«
»Was denkst du denn? Das hier ist nur der alte Kohlenkeller.«
Sie zog ihn hinter sich her durch die Finsternis. Nach etwa fünf Schritten blieb sie stehen. Leo trat ihr auf die Fersen und murmelte eine Entschuldigung. Warum passierte so etwas nie im Film? Weil dort alle cool und in jeder Lage souverän waren, und sich niemand für einen Typen interessieren würde, der im entscheidenden Moment der Heldin auf die Füße tritt. Wahrscheinlich wurden solche Szenen nachträglich heraus geschnitten, und man zeigte nur ein manipuliertes Bild, das wirklich für jeden zu verstehen war.
Julia drückte Leo einen Holzstiel in die Hand, an dessen Ende er eine schwere Klinge ertastet.
»Nur für alle Fälle!«
Was glaubte sie, würde er mit einer Axt anfangen?
Sie schlichen die Kellertreppe hinauf und Julia führte ihn durch den kurzen Flur ins Wohnzimmer. Im Obergeschoss hörte man immer wieder dumpfe Schläge, als ob etwas zu Boden fiel. Julia hob den Arm. Im Zwielicht erkannte Leo das Brecheisen in ihrer Hand. Sie deutete auf die geschwungene Treppe. Da hinauf also, für alles andere war keine Zeit. Er schob Julia hinter sich. Der Schaft der Axt war heiß geworden.
»Geh‘ ganz innen, da knarren die Stufen nicht.«
Leo nickte.
Zwei oder drei Stufen vom oberen Treppenabsatz entfernt, sah man Licht aus dem Türspalt dringen. Die Tür zur kleinen Bibliothek war nur angelehnt. Julia schob Leo weiter. Er machte einen Satz nach vorn und blieb mit dem Schuh an der Kante hängen. Um nicht zu fallen, hielt er sich am Geländer fest. Die Axt polterte die Treppe hinab. Für einen endlosen Augenblick war es totenstill. Das Licht im Türspalt erlosch. Dann rannte etwas auf sie zu.
»Wer ist da?«
Leos Stimme überschlug sich. Er fühlte den Atem eines Menschen, beißenden Schweißgeruch. Er bekam einen Mantel zu fassen. Eine Faust traf ihn hart am Kinn. Er schrie auf. Etwas fiel scheppernd zu Boden.
»Leo!«
Der Eindringling stieß einen Fluch aus und rannte die Treppe hinunter. Die Haustür wurde aufgerissen und heftig zugeschlagen. Leo stürzte hinterher. In der Einfahrt sah er sich um. Ein Motor heulte auf, Räder, die den Kies aufwühlen. Etwas raste auf ihn zu, Leo erstarrte. Gerade noch rechtzeitig warf er sich gegen die Hauswand. Nicht viel, und der Wagen hätte ihn erfasst. Das Auto stieß rückwärts auf die Straße und kam für einen Moment im Licht einer Straßenlaterne zum Stehen. Es war die schwarze Limousine! Im nächsten Augenblick quietschten die Reifen und der Wagen schoss davon. Leo sackte neben dem Schuppen zusammen. Kurz darauf beugte sich Julia über ihn.
»Um Gottes Willen, bist du verletzt?«
Er lachte hysterisch. »Hast du das Auto gesehen? Es war dasselbe Auto!«
Sie drückte ihn an sich.
»Als ich dich da liegen sah —« Sie konnte nicht weiter sprechen.
»Das Kennzeichen, hast du das Kennzeichen gesehen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Die Buchstaben waren
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