Die Augen des Drachen - Roman
weiter unten im Flur, der zum Kerker führte, wenn man lange genug ging (ein Weg, den keiner in Delain gern ging), war ein Abflussloch. Flagg konnte gurgelnde Laute hören, und wenn er nicht den Atem angehalten hätte, dann hätte er einen fauligen Geruch wahrgenommen. Es war einer der Abflüsse des Schlosses. Er ließ Stein und Klinge hineinfallen und grinste ungeachtet seiner schmerzenden Brust, als er das doppelte Platschen hörte. Dann eilte er zum Fenster zurück, beugte sich weit hinaus und sog gierig, Atemzug um Atemzug, die frische Luft ein.
Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück. Nun befanden sich nur noch die Pinzette, das Päckchen und das Weinglas auf
dem Tisch. Auf der Pinzette befand sich kein Stäubchen Drachensand, und das Restchen Sand in dem verhexten Päckchen konnte ihm nicht schaden, wenn er vorsichtig genug war.
Er fand, dass ihm bisher alles recht gut geglückt war. Seine Arbeit war keineswegs beendet, aber er hatte sie gut angefangen. Er beugte sich über den Pokal und inhalierte tief. Jetzt bestand keine Gefahr mehr; wenn der Sand in einer Flüssigkeit aufgelöst war, wurden seine Dämpfe harmlos und nicht mehr wahrnehmbar. Drachensand entwickelte seine tödlichen Dämpfe nur, wenn er etwas Festes berührte, etwa Stein.
Oder Fleisch.
Flagg hielt den Pokal ins Licht und bewunderte das blutrote Funkeln.
»Ein letztes Glas Wein, mein König«, sagte er und lachte, bis der zweiköpfige Papagei vor Angst kreischte. »Etwas, was Eure Eingeweide wärmen wird.«
Er setzte sich, drehte sein Stundenglas herum und begann, in einem riesigen Buch mit Zaubersprüchen zu lesen. Flagg las schon seit tausend Jahren in diesem Buch - das in Menschenhaut gebunden war - und hatte erst ein Viertel davon geschafft. Zu lange in diesem Buch zu lesen, das auf den hohen, fernen Ebenen von Leng von einem Wahnsinnigen namens Alhazred geschrieben worden war, bedeutete, den Wahnsinn heraufzubeschwören.
Eine Stunde … nur eine Stunde. Wenn die obere Hälfte seines Stundenglases leer war, konnte er sich sicher sein, dass Peter wieder gegangen war. Eine Stunde, dann konnte er Roland dieses letzte Glas Wein bringen. Einen Augenblick lang betrachtete Flagg den knochenweißen
Sand, der gleichmäßig durch den Engpass des Stundenglases rieselte, dann beugte er sich ruhig über sein Buch.
22
Roland war erfreut und gerührt, dass Flagg ihm an diesem Abend, bevor er zu Bett ging, noch ein Glas Wein brachte. Er trank es mit zwei großen Schlucken leer und erklärte hinterher, dass es ihn angenehm erwärmt hatte.
Flagg lächelte unter seiner Kapuze und sagte: »Das dachte ich mir, Eure Hoheit.«
23
Ob es Schicksal war oder nur Glück, dass Thomas Flagg an diesem Abend zu seinem Vater gehen sah, auch das ist eine Frage, die ihr euch selbst beantworten müsst. Ich weiß nur, dass er ihn sah, und zwar allein deswegen, weil Flagg sich jahrelang darum bemüht hatte, seinen speziellen Freund aus diesem armen, ungeliebten Jungen zu machen.
Ich werde es gleich erklären - aber zuvor muss ich noch eine falsche Vorstellung korrigieren, die ihr vielleicht von der Zauberei habt.
In Geschichten über Zauberei gibt es drei Arten, von denen meistens nebenbei gesprochen wird, als könnte jeder zweitklassige Zauberer sie ausführen. Das sind: Blei in Gold verwandeln, die eigene Gestalt verändern und sich unsichtbar machen. Zuerst solltet ihr wissen, dass echte Zauberei niemals einfach ist; wenn ihr das denkt, dann solltet ihr einmal versuchen, eure Lieblingstante verschwinden zu lassen, wenn sie das nächste Mal für eine oder zwei Wochen zu Besuch kommt. Echter Zauber ist schwer, und böse Magie ist zwar leichter als gute, aber immer noch schwer genug.
Man kann Blei in Gold verwandeln, wenn man die Namen kennt, die man dabei anrufen muss, und wenn man jemanden findet, der einem genau den richtigen Trick zeigt, wie man die Bleibarren teilen muss. Gestaltverändern und Unsichtbarmachen aber sind unmöglich
- oder zumindest so schwierig, dass man dieses Wort getrost dafür verwenden kann.
Von Zeit zu Zeit hatte Flagg - der ein großartiger Lauscher war - Dummköpfen zugehört, die Geschichten von jungen Prinzen erzählten, die bösen Flaschengeistern in letzter Minute entkamen, indem sie ein einfaches Zauberwort sprachen und verschwanden, oder von jungen und bildschönen Prinzessinnen (in Märchen waren sie immer bildschön, wenngleich Flagg aus eigener Erfahrung wusste, dass die meisten echten
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