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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Mal Wein gebracht hatte. Er blickte durch die Augen des Drachen und sah alles.

25
    Hätte man Flagg direkt gefragt, weshalb er Thomas diesen Ort und den Geheimgang gezeigt hatte, der dorthin führte, hätte er keine befriedigende Antwort geben können. Das lag daran, dass er auch nicht genau wusste, warum er es getan hatte. In seinem Kopf hatte er ein Gespür für Unheil, wie andere Menschen ein Gespür für Zahlen oder einen guten Orientierungssinn haben. Das Schloss war sehr alt, und es enthielt viele Geheimtüren und Geheimgänge. Flagg kannte die meisten davon (niemand, nicht einmal er, kannte sie alle), aber dies war der Einzige, den er Thomas jemals zeigte. Sein Gespür für Unheil hatte ihm verraten, dass dies zu Ärger führen konnte, und Flagg gehorchte einfach seinem Instinkt. Schließlich war Unheil Flaggs Lebenselixier.
    Ab und zu stürmte er in Thomas’ Zimmer und rief: »Tommy, du siehst verdrießlich aus! Mir ist etwas eingefallen, das du vielleicht gern sehen möchtest! Sollen wir es uns ansehen?« Er sagte fast immer: Du siehst verdrießlich aus, Tommy; oder Du siehst niedergeschlagen aus, Tommy; oder Du siehst aus, als hättest du dich gerade auf einen Zwickkäfer gesetzt, Tommy, weil er fast immer genau dann auftauchte, wenn Thomas sich besonders deprimiert oder in düsterer Stimmung fühlte. Flagg wusste, dass Thomas Angst vor ihm hatte, und Thomas würde eine Ausrede erfinden, um nicht mit ihm gehen zu müssen, wenn er nicht dringend einen Freund
brauchte … und sich so elend und unglücklich fühlte, dass es ihm einerlei war, was für ein Freund das war. Flagg wusste das, aber Thomas selbst wusste es nicht - seine Angst vor Flagg war sehr tief in ihm vergraben. An der Oberfläche seiner Gedanken hielt er Flagg für einen feinen Kerl, der eine Menge kannte und lustige Einfälle hatte. Manchmal war der Spaß ein bisschen gemein, aber häufig war das Thomas gerade recht.
    Findet ihr es seltsam, dass Flagg etwas über Thomas wusste, das dieser selbst nicht wusste? Das ist gar nicht so seltsam. Die Köpfe der Menschen, besonders die Köpfe von Kindern, sind wie Brunnen - tiefe Brunnen voll süßem Wasser. Und manchmal, wenn ein bestimmter Gedanke so unerfreulich ist, dass man ihn nicht ertragen kann, dann sperrt die Person, die ihn gedacht hat, ihn in eine schwere Kiste und wirft diese in den Brunnen. Sie lauscht dem Platschen … und dann ist die Kiste verschwunden. Aber natürlich ist sie das nicht. Nicht wirklich verschwunden. Flagg, der sehr alt und weise war - und auch sehr böse -, wusste genau, dass selbst der tiefste Brunnen einen Grund hat, und nur weil man etwas nicht mehr sehen kann, bedeutet das noch lange nicht, dass es weg ist. Es ist immer noch da und liegt auf dem Grund. Und er wusste, dass die Kisten, in denen die bösen, erschreckenden Gedanken eingesperrt waren, verfaulen konnten, und das Übel darin konnte nach einer Weile durchsickern und das Wasser vergiften … und wenn der Brunnen des Verstandes im Kopf stark vergiftet ist, dann nennen wir das Wahnsinn.
    Wenn der Zauberer ihm manchmal Furcht einflößende Dinge im Schloss zeigte, dann nur deshalb, weil er wusste, je mehr Thomas ihn fürchtete, desto mehr
Macht würde er über ihn erlangen … und er wusste, er konnte diese Macht erlangen, weil er ebenfalls etwas wusste, was ich euch schon gesagt habe - dass Thomas schwach war und häufig von seinem Vater vernachlässigt wurde. Flagg wollte, dass Thomas Angst vor ihm hatte und dass er im Lauf der Jahre viele solcher Kisten in die Dunkelheit in sich selbst warf. Wenn Thomas irgendwann wahnsinnig wurde, nachdem er König geworden war, na und? Das würde es für Flagg einfacher machen zu herrschen; es würde seine Macht nur noch vergrößern.
    Woher kannte Flagg den richtigen Zeitpunkt, um Thomas zu besuchen und ihn auf diese seltsamen Führungen durch das Schloss mitzunehmen? Manchmal sah er in seinem Kristall, was Thomas traurig oder wütend gemacht hatte. Öfter jedoch verspürte er einfach den Drang, Thomas zu besuchen, und folgte ihm - sein Instinkt für Unheil täuschte ihn selten.
    Einmal führte er Thomas auf den Ostturm - sie erklommen Stufen, bis Thomas hechelte wie ein Hund, aber Flagg schien niemals außer Atem zu kommen. Oben war eine Tür, so klein, dass selbst Thomas auf Händen und Füßen hindurchkriechen musste. Dahinter befand sich ein dunkler Raum, in dem es unaufhörlich raschelte, und in dem Raum befand sich ein einziges kleines Fenster. Flagg hatte ihn

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