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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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der Tür, als Ben aufschloss. Sie hatten das Läuten des herannahenden Schlittens gehört. Seine Mutter umarmte ihn weinend. Sein Vater, dessen Gesicht gerötet war und in dessen Augen ungewohnte Tränen traten, schüttelte ihm die Hand, bis es schmerzte. Ben erinnerte sich daran, wie Peyna gesagt hatte: Die Stürme sind noch nicht vorbei, sie fangen erst an.
    Und viel später, als er mit hinter dem Kopf verschränkten Händen im Bett lag und in die Dunkelheit starrte und dem Wind lauschte, der draußen heulte, wurde Ben klar, dass Peyna seine Frage nicht beantwortet hatte - er hatte nicht gesagt, ob er glaubte, dass Peter schuldig war oder nicht.

66
    Am siebzehnten Tag von Thomas’ Regentschaft brachte Dennis, Brandons Sohn, die ersten einundzwanzig Servietten zur Nadel. Er holte sie aus einer Vorratskammer, von der weder Peter noch Thomas noch Ben Staad noch Peyna selbst etwas wussten - aber noch bevor die schlimme Angelegenheit von Peters Haft vorüber war, würden sie alle von ihr wissen. Dennis kannte sie, weil er der Sohn eines Dieners war, der wiederum einer langen Ahnenreihe von Dienern entstammte, aber Vertrautheit erzeugt Gedankenlosigkeit, sagt man, und so dachte er sich nichts Besonderes bei dieser Vorratskammer, aus der er die Servietten holte. Wir werden später noch auf diese Kammer zu sprechen kommen; vorerst möchte ich euch nur so viel verraten: Alle wären äußerst verwundert gewesen, wenn sie sie gesehen hätten, ganz besonders Peter. Denn hätte er von dieser Kammer gewusst, die für Dennis so selbstverständlich war, dann hätte er seine Flucht vielleicht ganze drei Jahre früher bewerkstelligen können … und vieles wäre sicher anders gekommen - im Guten wie im Schlechten.

67
    Das königliche Wappen wurde von jeder Serviette von einer Frau entfernt, die Peyna wegen ihrer flinken Nadel und ihrer verschlossenen Lippen eingestellt hatte. Jeden Tag saß sie in einem Schaukelstuhl vor der Tür der Vorratskammer und löste Stiche, die wirklich schon sehr alt waren. Wenn sie das tat, hielt sie die Lippen aus mehr als einem Grund geschlossen; einerseits schien ihr das Auftrennen solcher Stickereikunst beinahe ein Vergehen zu sein, aber ihre Familie war arm, und das Geld von Peyna war wie ein Geschenk des Himmels. So saß sie die folgenden Jahre da, wiegte sich hin und her und hantierte mit der Nadel, wie eine jener Schicksalsgöttinnen, von denen ihr vielleicht schon in einer anderen Geschichte gehört habt. Sie sprach mit niemandem über ihre tägliche Auftrennarbeit, nicht einmal mit ihrem Mann.
    Die Servietten verströmten einen leichten, seltsamen Geruch - nicht schimmlig, sondern muffig, als wären sie ewig lange nicht mehr benutzt worden -, aber sonst waren sie makellos, jede zwanzig mal zwanzig Rondels, groß genug, den Schoß selbst des gierigsten Essers zu bedecken.
    Bei der Übergabe der ersten Servietten ereignete sich ein komischer Zwischenfall. Dennis schlich um Beson herum, weil er mit einem Trinkgeld rechnete. Beson ließ ihn schleichen, weil er damit rechnete, dass der dumme Bengel früher oder später daraufkommen würde, ihm
ein Trinkgeld zu geben. Beide kamen gleichzeitig zu der Schlussfolgerung, dass keiner ein Trinkgeld bekommen würde. Dennis ging zur Tür, und Beson half mit einem kräftigen Tritt in den Hintern nach. Das brachte ein paar Unterwachmänner dazu, herzhaft zu lachen. Dann tat Beson zur weiteren Belustigung der Unterwachmänner so, als würde er sich mit einer Handvoll Servietten den Hintern abwischen, aber er achtete sorgfältig darauf, nur so zu tun - immerhin hatte Peyna irgendwie mit der Sache zu tun, daher war es das Beste, sich zu benehmen.
    Vielleicht würde Peyna jedoch nicht mehr lange da sein. In den Schänken und Weinlokalen hatte Beson bereits Gerüchte gehört, wonach der Schatten Flaggs auf den Obersten Richter gefallen war, und wenn Peyna nicht sehr, sehr vorsichtig war, konnte es geschehen, dass er eines schönen Tages die Geschehnisse im Gericht aus einem noch vorteilhafteren Blickwinkel betrachten konnte als von der Bank, auf der er derzeit saß - diese Burschen munkelten hinter vorgehaltener Hand, es könnte ihm blühen, dass er von einer der spitzen Stangen auf der Schlossmauer durch das Fenster hineinsehen konnte.

68
    Am achtzehnten Tag von Thomas’ Regentschaft lag die erste Serviette auf Peters Frühstückstablett, als es am Morgen gebracht wurde. Sie war so groß, und das Frühstück war so klein, dass sie die gesamte Mahlzeit

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