Die Augen des Drachen - Roman
gebracht worden. Als es klopfte, sahen die drei auf und dann einander an. In Bens Augen war nur Neugier zu lesen, aber Andrew und Susan waren auf der Stelle und instinktiv besorgt.
Andrew stand auf und ließ die Lesebrille in die Tasche gleiten.
»Vater?«, fragte Ben.
»Ich gehe«, sagte Andrew.
Lass es nur einen Reisenden sein, der sich in der Dunkelheit verirrt hat und Unterkunft sucht, dachte er, aber als er die Tür öffnete, stand ein Soldat des Königs auf der Schwelle, schwerfällig und breitschultrig. Ein Lederhelm - der Helm eines Kämpfers - saß auf seinem Kopf. Er hatte ein Kurzschwert im Gürtel, leicht greifbar.
»Euer Sohn«, sagte er, und Andrew spürte, wie die Knie unter ihm nachgaben.
»Was wollt Ihr von ihm?«
»Ich komme von Peyna«, sagte der Soldat, und Andrew wurde klar, dass er keine andere Antwort bekommen würde.
»Vater?«, fragte Ben hinter ihm.
Nein, dachte Andrew verzweifelt, bitte, das ist zu viel Unglück, nicht mein Sohn, nicht mein Sohn …
»Ist das der Junge?«
Bevor Andrew Nein sagen konnte - so vergeblich das gewesen wäre -, war Ben vorgetreten.
»Ich bin Ben Staad«, sagte er. »Was wollt Ihr von mir?«
»Du musst mit mir kommen«, sagte der Soldat.
»Wohin?«
»Zum Haus von Anders Peyna.«
»Nein!«, schrie seine Mutter unter der Tür ihres kleinen Wohnzimmers. »Nein, es ist zu spät, es ist kalt, die Straßen sind voller Schnee...«
»Ich habe einen Schlitten«, sagte der Soldat ungerührt, und Andrew Staad sah, wie die Hand des Mannes den Griff des Kurzschwerts umfasste.
»Ich komme«, sagte Ben und holte seinen Mantel.
»Ben …«, begann Andrew und dachte: Wir werden
ihn nie mehr wiedersehen, er wird uns weggenommen, weil er den Prinzen gekannt hat.
»Alles wird gut, Vater«, sagte Ben und umarmte ihn. Und als Andrew die jungen, starken Arme um sich spürte, glaubte er dies fast. Aber, dachte er, sein Sohn hatte noch nicht gelernt, Angst zu haben. Er hatte noch nicht gelernt, wie grausam die Welt sein konnte.
Andrew Staad hielt seine Frau. Die beiden standen unter der Tür und sahen Ben und dem Soldaten nach, die sich durch die Schneewehen einen Weg zu dem Schlitten bahnten, der lediglich ein Schatten in der Dunkelheit war, an dessen Seiten unheimlich Lampen glommen. Keiner sagte ein Wort, als Ben auf der einen Seite einstieg, der Soldat auf der anderen.
Nur ein Soldat, dachte Andrew, das ist immerhin schon etwas. Vielleicht wollen sie ihn nur verhören. Ich bete, dass sie meinen Sohn nur verhören wollen!
Die Staads standen schweigend da, und um ihre Knöchel bildeten sich kleine Schneeverwehungen, während der Schlitten losfuhr; die Flammen der Laternen flackerten und die Glöckchen klangen.
Als sie fort waren, brach Susan in Tränen aus.
»Wir werden ihn nie mehr wiedersehen«, schluchzte sie. »Nie mehr! Sie haben ihn geholt! Dieser verfluchte Peter! Verflucht soll er sein für das, was er meinem Sohn angetan hat! Verflucht! Verflucht!«
»Pst, Mutter«, sagte Andrew und zog sie fest an sich. »Pst. Pst. Wir werden ihn vor dem Morgengrauen wiederhaben. Spätestens am Nachmittag.«
Aber sie hörte das Zittern in seiner Stimme und weinte nur noch mehr. Sie weinte so sehr, dass sie die kleine Emmaline weckte (vielleicht war es auch die Zugluft
von der offenen Tür), und es dauerte sehr, sehr lange, bevor Emmaline wieder einschlafen konnte. Endlich schlief Susan zusammen mit ihr ein, beide in dem großen Bett.
Andy Staad schlief in dieser Nacht überhaupt nicht.
Er saß vor dem Kamin und hoffte gegen jede Hoffnung, aber tief im Inneren war er davon überzeugt, dass er seinen Sohn nie mehr wiedersehen würde.
65
Ben Staad stand eine Stunde später in Anders Peynas Arbeitszimmer. Er war neugierig, sogar ein wenig ehrfürchtig, aber Angst hatte er keine. Er hatte sich alles genau angehört, was Peyna gesagt hatte, und es hatte leise geklimpert, als Geld den Besitzer wechselte.
»Hast du alles verstanden, Junge?«, fragte Peyna mit seiner trockenen Gerichtssaalstimme.
»Ja, mein Lord.«
»Ich muss sichergehen. Dies ist kein Kinderkram, den du erledigen musst. Wiederhole mir, was du zu tun hast.«
»Ich muss ins Schloss gehen und mit Dennis, dem Sohn Brandons, sprechen.«
»Und wenn Brandon sich einmischt?«, fragte Peyna scharf.
»Muss ich ihm sagen, er soll mit Euch sprechen.«
»Gut«, sagte Peyna und lehnte sich im Sessel zurück.
»Ich darf nicht sagen: ›Erzählt niemandem etwas davon. ‹«
»Ja«, sagte Peyna. »Weißt du
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