Die Augen
L.A. gelebt, und sie ist vor mehr als fünf Jahren zurück nach Seattle gezogen. Woher wollen Sie da so viel über ihr Leben wissen? Ich wette, Sie wissen nicht besonders viel.«
»Maggie …«
»Sie hat ehrenamtlich in einer Kindertagesstätte bei sich in der Nachbarschaft gearbeitet, wussten Sie das? Und im örtlichen Tierheim. Sie ist immer noch nachts aufgewacht und hat nach ihrem Mann gegriffen, obwohl der seit fast zwei Jahren tot war. Sie hat mit ihren Pflanzen gesprochen, manchmal hat sie ihnen sogar vorgesungen. Sie lernte sogar, mit dem Computer umzugehen. Weil Simon nicht mehr da war, hatte sie nicht mehr das Gefühl, auf diesem Gebiet mit ihm konkurrieren zu müssen. Sie hat abends im Bett alte Filme angesehen, und kurz bevor sie überfallen wurde, war sie mitten in einer wunderbaren Serie von Kriminalromanen.«
Maggie holte tief Luft. »Wussten Sie das? Wussten Sie irgendetwas davon?«
John starrte durch die Windschutzscheibe, in seiner angespannten Kinnpartie bewegte sich ein Muskel. »Nein«, entgegnete er schließlich. »Davon wusste ich nichts.«
Maggie blickte auf den Skizzenblock auf ihrem Schoß und lockerte dann bewusst den Griff, mit dem sie ihn gepackt hielt. Sie musste sich wirklich ein wenig davon lösen, dachte sie unbestimmt. Es war tatsächlich ein schlechtes Zeichen. »John, wenn ich glauben würde, wirklich glauben, dass ich Ihnen helfen könnte, indem ich rauf in Christinas Wohnung gehe, dann würde ich es tun. Aber nichts, was ich dabei herausfinden könnte, würde Ihnen irgendwie weiterhelfen.« Vorausgesetzt, ich würde überleben und könnte es Ihnen erzählen. Aber das sagte sie natürlich nicht.
Leise fuhr sie fort: »Wir sollten versuchen, zum Haus der Mitchells zu kommen, solange die Cops noch da sind.«
Wortlos legte John den Gang ein und fuhr auf die Straße.
Maggie spürte keine Feindseligkeit von ihm ausgehen, deshalb sorgte sie sich nicht wegen seines Schweigens. Stattdessen nutzte sie die Zeit, so gut sie konnte, um ihre wenigen Abwehrmechanismen in Stellung zu bringen. Nicht dass sie je viele gehabt hätte. Sie war lediglich halbwegs in der Lage, ihren Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu halten. Hinzu kam das, was Beau ihre reizbare Rühr-mich-nicht-an-Haltung nannte.
An diesen beiden Mechanismen arbeitete sie also, zumindest in den rund zehn Minuten, die sie für die Fahrt zum Haus der Mitchells benötigten. Die Polizei hatte das Verschwinden dieser Frau eigentlich geheim halten wollen, bis man wusste, ob Samantha Mitchell tatsächlich vom Augenausreißer entführt worden war, doch die Presse hatte zumindest Wind davon bekommen. Nun lungerten Reporter gleich hinter der langen Auffahrt herum, wo die Polizei sie zurückhielt.
Andy hatte sie angekündigt. Deshalb wurden sie gleich durchgewinkt und konnten beinahe ohne anzuhalten in die Einfahrt fahren. Aber eben nur beinahe, und so gelang es einem Fotografen unglücklicherweise, ein Foto von John zu machen.
»Scheiße«, fluchte er leise.
Maggie, die nach Kräften versucht hatte dafür zu sorgen, dass man ihr Gesicht nicht sehen konnte, meinte: »Morgen sind Sie in der Zeitung. Ich frage mich, ob Andy klar war, dass die Reporter ihren Verdacht, es könnte sich hier um das neueste Opfer handeln, so ziemlich bestätigt sehen, wenn sie Sie hier entdecken.«
»Es wird keine offizielle Bestätigung sein, also können sie nur mutmaßen. Aber das macht mir keine Sorgen.«
»Was denn?«
»Drummond.« John warf ihr einen gequälten Blick zu. »Er war nicht besonders glücklich darüber, dass ich Zugang zu den Ermittlungen bekommen habe, und ich habe ihm mehr oder weniger versprechen müssen, dass ich mich unauffällig verhalte.«
»Aua.«
»Ja.« Ohne weiteren Kommentar stellte John den Wagen ab und stieg aus.
Es war ein großes Haus im spanischen Stil in einem Wohnviertel der oberen Mittelklasse, wo praktisch jedes Haus seinen ganz einzigartigen Stil hatte. Manikürter Rasen, erlesene Gartengestaltung. Maggie sah sich um, während sie sich einen Weg durch die Polizeiwagen bahnten, die den oberen Teil der Auffahrt verstopften, und murmelte: »Man würde doch meinen, dass ein Fremder in so einem Viertel sofort auffällt.«
»Denke ich auch, ja. Außer er hatte sich als Mitarbeiter irgendeiner Dienstleistungsfirma verkleidet. Unter aller Augen und doch nicht zu sehen.«
Maggie wusste, dass die Polizei diese Möglichkeit garantiert berücksichtigt hatte. Weder Andy noch seine Mitarbeiter waren dumm. Dennoch kam es
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