Die Augen
ihr ausgesprochen sonderbar vor, dass ein Vergewaltiger, der zu solchen Mitteln griff, um seine Identität vor seinen Opfern geheim zu halten, es sich erlauben konnte, ganz offen in Wohngebieten und Einkaufszentren herumzulaufen, wo irgendjemand ihn einfach bemerken musste – auch wenn er gut getarnt war.
Der Polizist an der Tür sagte, sie hätten die Erlaubnis, durchs Haus zu gehen, und da die Spurensicherung gerade zusammenpacke, könnten sie hereinkommen, wann sie wollten.
»Wo ist Mr Mitchell?«, fragte Maggie.
»Er ist mit ein paar Detectives in der Küche.«
Maggie nickte und ging an ihm vorbei in den Eingangsbereich. Mehrere Kisten mit Ausrüstung standen offen oder geschlossen auf dem polierten Holzboden und legten Zeugnis ab von der Anwesenheit der Leute von der Spurensicherung. Aus der oberen Etage waren hin und wieder Stimmen zu hören. Im Erdgeschoss war man aber offenbar bereits fertig geworden.
Einen Moment lang war sie sich der Tatsache sehr bewusst, dass John gleich hinter ihr stand, doch sie zwang sich, sich auf das zu konzentrieren, was vor ihr lag. Auch nach all den Jahren war es noch schwierig genug, sich auf den schmerzhaften, verstörenden Gefühlsansturm vorzubereiten, zumal sie das Spurensicherungsteam hören konnte. Einer der Gründe, weshalb sie stets versuchte, die Begehung des Tatorts aufzuschieben, bis alle anderen mit der Arbeit fertig waren, war der, dass die Gefühle anderer Anwesender ihre Arbeit beeinträchtigen konnten.
Einer der Gründe.
»Hier gibt es keine Blutspur.« John klang sachlich. »Wo fangen Sie also an?«
Sie warf ihm einen Blick zu und wünschte, sie müsste sich ihm nicht auf diese Art beweisen. Doch wenn er dies hier nicht akzeptieren und glauben konnte, wie sollte er dann je den Rest akzeptieren und glauben? Und gleichgültig, wie die Dinge sich entwickeln würden, er würde das alles glauben müssen.
Oder?
In Windeseile traf Maggie ihre Endscheidung und gab ihre mantraähnliche Ausrede, sie sei nur eine übersensible Person, auf.
»Ich bin eine menschliche Wünschelrute für Gewalt«, sagte sie im gleichen Tonfall wie er. »Wenn hier welche stattgefunden hat, spüre ich auf, wo.«
Seine Miene war völlig ausdruckslos. »Verstehe.«
»Das bezweifle ich.« Maggie drückte den Skizzenblock an sich wie die Schmusedecke, die er ja praktisch war, und ging ins Wohnzimmer zu ihrer Linken. Die bequemen und teuren Möbel würdigte sie keines Blickes, ebenso wenig die Dekoration. Vielmehr stellte sie sich in die Zimmermitte, schloss für einen Augenblick die Augen und öffnete dann widerstrebend die innere Tür zu jenem zermürbenden zusätzlichen Sinn.
Wie immer war es ein ganz eigentümliches Gefühl, zuerst ein fernes Gemurmel, begleitet von blitzartig aufscheinenden Bildern, als ließe ein Stroboskop sie vor ihrem geistigen Auge aufflackern.
Dann erhaschte sie einen Hauch von Weinaroma, den beißenden Geruch von Holzrauch, ein Eau de Cologne oder Aftershave. Hörte Stimmen, die bei einem Streit plötzlich laut wurden, spürte, dass ihre Hand brannte, als hätte sie jemanden geschlagen.
Dann Hände, die ihre Handgelenke packten, und ein Mund, der sich grob auf ihren Mund presste …
Maggie tat einen zittrigen Schritt zurück, um den Kontakt physisch zu unterbrechen.
Leise fluchte sie: »Scheiße.«
»Was?« John beobachtete sie fasziniert, eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen.
Sie sah zum Kamin, in dem heute kein Feuer brannte, dann zur anscheinend bequemen Couch und seufzte. »Es gibt Gewalt … und dann gibt es Gewalt. Verdammt! Ich hasse es, den Voyeur zu spielen.«
»Maggie, wovon reden Sie denn?«
»In diesem Raum wurde niemand gegen seinen Willen zu irgendetwas gezwungen, John. Ich habe nur mitbekommen, wie … Nun, sagen wir, die Mitchells haben ein aktives und … heftiges Sexualleben.«
Wie zuvor Maggie warf er einen Blick auf die Couch, dann sah er rasch wieder zu ihr. »Oh.«
Maggie versuchte nicht, in seinem Gesicht zu lesen oder seine Gefühle zu erspüren. Sie vergeudete auch keine Zeit damit, sich zu fragen, ob er ihr glaubte. Stattdessen ging sie ins nächste Zimmer. Hier blieb sie nicht stehen, sondern ging langsam durch den Raum, sah sich um, gestattete aber ihrem inneren Sinn, derjenige Teil von ihr zu sein, der sah. Und hörte. Und fühlte.
Sie erhaschte Fragmente eines weiteren Ehestreits im Fernsehzimmer, offenbar – ausgerechnet – wegen eines Papageis, und sie wusste, jemand hatte sich – auch das merkwürdig –
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