Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman
für Kleinbahnen nicht teilte. Herr Faustini wollte ihm nicht sagen, dass er nicht daran glaube, dass in der Welt der Kleinbahnen die Welt fließe.
Emil verabschiedete sich mit einem Griff an seine Schirmmütze und verschwand im Eisenbahnmuseum.
Auf dem Bahnhofsplatz verspürte Herr Faustini das Verlangen, sich auf eine Bank zu setzen und die Welt vorüberziehen zu lassen. Doch es war nirgends eine Sitzbank zu entdecken. Bestimmt hatte es hier früher Bänke gegeben, aber jemand hatte beschlossen, sie zu entfernen, um den Obdachlosen keine Aufenthaltsmöglichkeit zu bieten. Zugegeben, meist waren die Bänke an den Bahnhöfen von Obdachlosen und anderen Sehnsüchtigen besetzt, die auf einen Zug warteten, der niemals ankommen würde. Jetzt aber wäre Herr Faustini gerne einfach nur vor dem Bahnhof gesessen und hätte die Welt vorüberziehen lassen.
Da war sie auch schon, die Welt. Auf dem Gehsteig löste sich die Silhouette der Anmut. Ja, es war die Anmut selbst in Gestalt einer feingliedrigen Frau. Noch nie hatte Herr Faustini eine Frau so gehen sehen. Im Gang der Unbekannten wurden Generationen von selbstbewussten Frauen sichtbar. Frauen, die von ihren Müttern das Geheimnis eines erfüllten Frauenlebens erbten und es an ihre hoffnungsvollen Töchter weitergaben. Diese Frau, die sich selbst als Kunstwerk über den Bahnhofsplatz trug, umgab ein eigener Hauch. Beine waren nicht nur zur Fortbewegung da, das begriff Herr Faustini im Augenblick. Diese Beine spielten das Spiel von der Schönheit, und sie erhellten mit ihrem Spiel den ganzen Platz. Beim Anblick der Frau öffnete sich in Herrn Faustini ein Fenster und Licht strömte in sein Inneres. Herr Faustini empfand tiefe Dankbarkeit. Die Frau würde nie erfahren, was sie in ihm auslöste. Darüber musste er lächeln. Sie war aus dem Nichts aufgetaucht, er hatte zufällig zur Bushaltestelle hingesehen, an der sie vorbeiging. Die Bushaltestelle, eben noch grau und hässlich, verwandelte sich durch die an ihr Vorbeigehende in einen bedeutsamen Ort. Ein an Lichtbrechung und Perspektive interessierter Maler würde ihn malen wollen, sähe er mit Herrn Faustinis Augen.
Die Gehende bog in die Fußgängerzone ein, wo sie dem farblosen Einerlei der Sonderangebotsschilder und Wühlkästen einen eigenen Schimmer verlieh. Mehrere Paare, die vor einem Café bei ihrem Cappuccino saßen, hoben wie auf ein Zeichen zugleich den Blick und sahen der Gehenden nach, wobei ihre Gespräche verstummten. Die Gehende blieb vor dem Schaufenster eines Schuhgeschäfts stehen, drehte ihren Kopf, und ihr Körper folgte der Drehung unendlich geschmeidig. Sie trug eine beige Bluse über einem hellen Rock, aber das war es nicht, was das Licht um sie erklärte. Sie betrat das Schuhgeschäft, was Herr Faustini nun gespannt beobachtete. Eben ging der ungleichschultrige Mann im Trenchcoat auf steifen Beinen vorbei, die rechte Schulter hochgezogen, wie an seine Begleiterin gelehnt, die Frau mit entschiedenem Blick aus Feuer sprühenden Augen. Ein Trenchcoat zu dieser Jahreszeit? Herr Faustini konnte sich mit der Bekleidung des ungleichschultrigen Mannes nicht länger beschäftigen. Er war erfüllt von Dankbarkeit, dass er einen solchen Augenblick des Glücks erleben durfte. War je so viel Welt durch Herrn Faustini hindurchgeflossen wie beim bloßen Anblick dieser Unbekannten? Auf dem Bahnhofsplatz von Neustadt an der Weinstraße. Alles zerfließt in einem solchen Augenblick. Die Welt verstummt. Die Freude ist wortlos. So oder so ähnlich stellte sich Herr Faustini den Mittelpunkt vor, an dem alles zusammenkäme.
Herr Faustini musste in diesem Zustand wohl als der ideale Adressat für jede Art von Lebensäußerung wirken, sonst hätten der Mann im Trenchcoat und seine Begleiterin mit dem entschiedenen Blick nicht Kurs auf ihn genommen. Unter den rechten Arm geklemmt trug der Mann eine braune Aktentasche. Er hielt sich nach links geneigt, wo seine Begleiterin ging, den Blick nach vorn, damit der Weg nicht in den Graben führt. Die beiden gingen schon lange so, dachte Herr Faustini. Gleich würde der Mann im Trenchcoat seine Augen unruhig von einer Straßenseite zur anderen wandern lassen. Und wirklich, seine Augen wanderten. Herr Faustini lachte innerlich ein heiteres Lächeln, denn es ist schön, wenn genau das geschieht, was man erwartet. Langsam näherte sich das Paar, sie gingen bedächtig, als überlegten sie vor jedem Schritt, ob es richtig sei, den Schritt zu tun. Die Frau war es, die den unruhigen
Weitere Kostenlose Bücher