Die Auserwaehlte
wünschen?«
Die Gefühle und Anspannung des Nachmittags hatten die Herrin der Acoma völlig erschöpft. Der erwartungsvolle Ausdruck in den Gesichtern der Dienerinnen ließ sie erkennen, daß der Nachmittag längst vergangen war. Blaue Schatten legten sich auf die papiernen Läden der Tür und warfen ein trübes, finsteres Licht auf die dekorativ gemalten Jagdszenen. Voller Sehnsucht nach dem einfachen Leben ihrer Kindheit beschloß Mara, sich heute noch einmal dem formellen Abendessen zu entziehen. Morgen war früh genug, sich den Tatsachen zu stellen und den Platz ihres Vaters am Kopfende des Tisches einzunehmen. »Laß die frische Abendbrise ein und zieh dich dann zurück«, sagte sie zu der Zofe.
Die Dienerin beeilte sich, ihren Wünschen nachzukommen, und öffnete die großen Außenläden, die nach Westen zeigten.
Die orangefarbene Sonne hing tief, als würde sie den violetten Rand des Horizonts küssen. Ein rotgoldenes Licht lag auf den Sümpfen, wo die Shatra-Vögel sich gegen Abend sammelten. Noch während Mara sie beobachtete, schwangen sich die staksigen Geschöpfe in die Luft. Innerhalb weniger Minuten war der Himmel mit ihren anmutigen, eleganten Silhouetten bedeckt, und sie wirbelten über scharlachrot und pinkfarben flammende Wolken, vermischt mit dem Indigo der hereinbrechenden Nacht. Der Anblick war majestätisch. Obwohl Mara dieses Schauspiel in ihrer Kindheit unendlich oft gesehen hatte, raubten die Vögel ihr immer noch den Atem. Sie bemerkte nicht, wie die Zofe sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich, und starrte fast eine Stunde gebannt auf die Vogelschwärme, die sich zu Tausenden sammelten und ihre Kreise zogen, ruhig dahinglitten, herunterstießen und wieder aufstiegen, während das Licht langsam nachließ. Als die Sonne verschwunden war, ließen die Vögel sich auf der Erde nieder. Im silbrigen Dämmerlicht sammelten sie sich in den Sümpfen, hockten nah zusammen, um die Raubtiere zu täuschen, während sie schliefen.
Die Dienerinnen kehrten in der warmen, lieblichen Stunde der Dämmerung zurück und brachten Öl für die Lampen und Kräutertee. Aber die Erschöpfung hatte Mara schließlich überwältigt. Sie fanden sie schlafend in den Kissen, eingelullt von den vertrauten Geräuschen der Hirten, die die Needra-Herden in die Unterstände trieben. In der Ferne erklang der traurige Gesang eines Küchenjungen, während er Thyza-Brot für das Morgenmahl knetete – ein sanfter Gegensatz zu den aus einiger Entfernung herüberklingenden Rufen von Keyokes Wachen, die auf dem Anwesen ihre Runden machten, um die Sicherheit der neuen Herrin der Acoma zu gewährleisten.
Mara war an die Disziplin des Tempellebens gewöhnt und erwachte sehr früh. Die ungewohnte Umgebung ließ sie zunächst verwirrt blinzeln; dann erinnerte die kostbare Tagesdecke über der Bettdecke sie daran, daß sie als Herrscherin der Acoma im Zimmer ihres Vaters lag. Ausgeruht, doch mit immer noch schmerzenden Verletzungen, die sie an den Attentäter der Minwanabi erinnerten, rollte sie sich auf die Seite. Ein paar Strähnen ihres üppigen Haares verfingen sich in ihren Wimpern; ungeduldig strich sie sie beiseite.
Die Morgendämmerung sandte ihre Strahlen durch die gen Osten gerichteten Fensterläden. Das Pfeifen eines Hirten, der die Needras auf die Weide zum Grasen trieb, vermischte sich mit dem morgendlichen Gezwitscher der Vögel. Mara war durch die Erinnerungen unruhig geworden und erhob sich.
Ihre Zofen bemerkten nicht, daß sie aufstand. Barfuß und dankbar über das Alleinsein schritt das Mädchen durch den Raum und griff nach dem Haken des Fensterladens. Sie schob ihn so leise wie möglich zurück. Kühle Luft liebkoste ihre Haut zwischen den losen Falten ihres Gewandes. Tief sog Mara den Geruch des Morgentaus und feuchter Erde und den kostbaren Duft der Akasi-Blumen ein. Aus dem sumpfigen Marschland stiegen Nebelschwaden auf, umflossen die an Kohlezeichnungen erinnernden Bäume und Hecken und hüllten auch die einsame Silhouette eines Hirten ein, der die trägen Needras vorantrieb.
Der Soldat, der im Hof Wache hielt, drehte sich bei seinem Rundgang um und bemerkte, daß das Mädchen in dem weißen Gewand und mit den vom Schlaf verworrenen Haaren seine Herrscherin war. Er verneigte sich ernst. Mara nickte geistesabwesend, als er sich wieder seiner Pflicht widmete. Sie betrachtete die weiten Ausmaße des Familienanwesens, zu einer Zeit, da der Morgen noch ungestört war vom Lärm und Gewirr des Tages. Bald
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