Die Auserwählte: Roman (German Edition)
schien ihr überhaupt nicht bewusst zu sein. Ihr Blick galt ausschließlich Prophet. Seine Worte waren es gewesen, die sie aus ihrem Flashback zurückgeholt hatten, nicht meine.
Parker tauchte in der Türöffnung zum Badezimmer auf, die Hände voller Tablettenfläschchen. »Ist sie …?«
»Mir geht’s gut«, sagte Mom. Ihre Stimme war so klar, wie ich sie seit dem Beben nicht mehr gehört hatte. Sie klang … nicht ganz so wie früher, aber zumindest wie jemand, der anwesend war. Der nicht im Traum murmelte.
Sie blickte mich blinzelnd an, als würde sie mein Gesicht nicht scharf zu sehen.
»Mia.« Sie sagte meinen Namen, als probierte sie ihn aus, als testete sie, ob er zu mir passte. »Parker.«
Dann berührte sie eine der Narben in ihrem Gesicht und nickte, als sei sie zu einer Erkenntnis gelangt. »Ich möchte allein sein.«
Sie warf einen Blick zur Tür, um Parker und mir zu signalisieren, dass wir gehen sollten. Doch keiner von uns beiden rührte sich von der Stelle. Mom war seit Wochen nicht mehr bei so klarem Verstand gewesen, und ich hatte Angst, den Moment zu verpassen, wenn ich auch nur blinzelte.
»Bitte«, sagte sie, und ihr Tonfall verschärfte sich. »Lasst mich allein, damit ich nachdenken kann.«
Parker machte ein Gesicht, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Die Wut, die ich am Morgen auf Mom gehabt hatte, und die frustrierende Enttäuschung, die sich seit einem Monat in mir angestaut hatte, stiegen an die Oberfläche.
»Wir versuchen doch nur, dir zu helfen!« Ich schrie die Worte zwar nicht, viel fehlte jedoch nicht.
Mom fixierte mich, ohne zu blinzeln. »Ihr könnt mir nicht helfen«, sagte sie, und ihre Stimme gewann einen Teil ihrer gewohnten verträumten Langsamkeit zurück. »Ich habe mich verlaufen. In der Dunkelheit. Im finsteren Tal.«
Sie blickte auf den Fernseher. Auf Prophet.
»Er sagt, ein Unwetter wird kommen und zu Ende führen, was bereits begonnen hat. Das Unwetter wird das Ende der Welt bedeuten. Er sagt, das sei Gottes Wille und Gottes Plan.«
Der Anflug eines Lächelns hob einen von Moms Mundwinkeln an.
»Prophet kann uns beschützen.«
Ich drückte den Ausschaltknopf des Fernsehers, und der Bildschirm wurde dunkel. »Er ist doch nur ein Fernsehprediger, Mom. Siehst du, wie machtlos er ist? Ich brauche bloß einen Knopf zu drücken, und schon verschwindet er.«
Sie stürzte sich wild mit den Armen rudernd auf mich, und ich war mir sicher, dass sie mich schlagen würde.
Aber sie schlug mich nicht. Sie schubste mich. Sie schubste mich zur Seite, aus dem Weg, und schaltete den Fernseher wieder ein. Prophets Gesicht füllte erneut den Bildschirm.
Mom holte tief Luft und lächelte seine leeren Augen an. »Geht jetzt«, sagte sie zu Parker und zu mir, ohne ihren Blick von Prophet zu nehmen.
»Was ist passiert?«, fragte ich Parker, als wir uns in der Küche befanden, wo Mom uns nicht hören konnte.
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nach ihr gesehen, und sie hat ganz ruhig gewirkt. Sie saß auf dem Bett und hat sich Die Stunde des Lichts angesehen. Dann hat Prophet davon gesprochen, dass ein Unwetter kommen und ein weiteres Erdbeben auslösen wird. Als Mom das gehört hat, ist sie ausgerastet.«
Ich erinnerte mich an Quentins Worte: Es wird ein verheerendes Unwetter aufziehen, auf das ein noch schlimmeres Erdbeben folgen wird.
In letzter Zeit sangen alle dasselbe Lied.
Mein Kiefer begann zu schmerzen, und mir wurde bewusst, dass ich die Zähne aufeinanderbiss. Selbstverständlich war Prophet derjenige gewesen, der Mom aus der Fassung gebrachte hatte. Das war schließlich seine Strategie, oder etwa nicht? Leute gefügig zu machen, indem er ihnen Angst einjagte. Und er hatte die perfekte Methode entwickelt. Alle fragten sich, ob das Beben womöglich von einem Blitz ausgelöst worden war, der in die Puente-Hills-Verwerfung eingeschlagen hatte. Und ob jetzt eine noch größere Wahrscheinlichkeit bestand, dass dasselbe wieder passieren würde, wenn das nächste Gewitter aufzog, da sich in der Wüste kilometertiefe Risse im Boden befanden, die bis zur Verwerfungslinie hinunterreichten.
Und dass ein falscher Prophet auf einer Woge der Zerstörung an die Macht kommen werde.
»Mia«, sagte Parker mit sorgenvoll gerunzelter Stirn, »wir haben ein Problem.«
»Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, hatten wir mehr als eines.«
»Tja, dann kannst du dieses zu deiner Liste hinzufügen.« Er schüttelte das halbe Dutzend Tablettenfläschchen in seinen Händen. Ich
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