Die Auserwählte: Roman (German Edition)
an ihren Wangen hinunter. Mir fiel nicht einmal auf, als bei mir dasselbe geschah.
»Er hat mir das Leben gerettet«, fuhr Mom fort. »Er bedeckte mich mit seinem Körper, als alles um uns einstürzte und herabfallende Trümmer ihm das Rückgrat brachen. Er überlebte noch vierundzwanzig Stunden, während er darauf wartete, gerettet zu werden. Dann starb er friedlich im Schlaf, ohne sich von mir zu verabschieden. Es dauerte noch zwei Tage, bis ein Rettungsteam uns fand. Oder vielmehr mich. Um uns herum waren noch mehr Leute verschüttet. Gefangen. Sie sind alle gestorben. Sie sind gestorben, und die Blumen sind gestorben, und der Fäulnisgeruch … jedes Mal, wenn ich daran denke, möchte ich schreien.« Sie wischte sich ihre vernarbten Wangen mit dem Ärmel ab und murmelte: »Ich möchte schreien.«
Mom nahm wieder Platz. Parker saß mit bleichem Gesicht und fassungslosem Blick neben ihr.
»Danke, dass Sie uns Ihre Geschichte erzählt haben, Sarah«, sagte Mr Kale. »Das war …« Er zögerte und murmelte: »Vielen Dank.«
Ich ging leise den Korridor entlang, weg von der Treppe, und versteckte mich am Ende der Reihe von den Spinden. Dort blieb ich, bis ich hörte, wie die Erdbeben-Überlebenden den Raum verließen. Ihre Stimmen und Schritte bewegten sich zur Treppe. Ich spähte aus meinem Versteck und sah Mom und Parker unter ihnen. Gut. Parker brachte sie nach Hause. Er blieb nicht da, um mit Mr Kale über die Suchenden zu sprechen.
Ich blieb, wo ich war, bis sie gegangen waren, da ich Mom nicht wissen lassen wollte, dass ich alles gehört hatte, was sie gesagt hatte. Offenbar wollte sie nicht, dass ich davon erfuhr. Sie hatte Parker eingeweiht, mich dagegen nicht.
In dem Augenblick, als ich mein Versteck verlassen wollte, hörte ich weitere Schritte, viele Schritte. Sie kamen die Treppe herauf. Ich erinnerte mich, dass unmittelbar im Anschluss an das Treffen der Erdbeben-Überlebenden ein Treffen von Blitzschlag-Überlebenden anberaumt war, und tauchte wieder in mein Versteck ab.
Als die Schritte verklungen waren, schlich ich den Korridor entlang und betete, dass Mr Kales Tür geschlossen war, damit er mich nicht noch einmal zu Gesicht bekam. Zum Glück war sie geschlossen, aber ich konnte trotzdem ein gedämpftes Stimmengemurmel hören. Und wenn ich mich zu dem Spalt unter der Tür hinuntergebeugt hätte, wäre ich wahrscheinlich in der Lage gewesen zu verstehen, was gesagt wurde.
Geh jetzt nach Hause, Mia, befahl ich mir. Geh nach Hause und kümmere dich um deine Familie.
Ich wollte auf die Stimme der Vernunft hören, aber … Es handelte sich um ein Treffen von Blitzschlag-Überlebenden, das vermutlich für Leute organisiert worden war, die während des Gewitters am Tag des Bebens vom Blitz getroffen worden waren, nicht für Leute wie mich. Trotzdem war ich neugierig. Vor allem aber war ich argwöhnisch. Was wollte Mr Kale mit Leuten, die vom Blitz getroffen worden waren?
Mit Leuten wie mir …
Also lauschte ich. Und ich hörte sofort eine Stimme, die ich erkannte. Eine Stimme, die ich am liebsten nie wieder gehört hätte.
Katrinas Stimme.
»Ich glaube nicht, dass noch irgendwelche Neuzugänge kommen«, sagte sie. »Wir können die Flugblätter ebenso gut wieder abhängen. Du solltest dich einfach damit abfinden, Onkel Kale, dass wir so weit von der Wüste entfernt niemals jemanden rekrutieren werden, schon gar nicht, nachdem wir mit Prophet konkurrieren. Du weißt doch, wohin die Überlebenden, die uns zuhören würden, jeden Abend gehen. Wir sollten alle Suchenden auf den Rove schicken.«
Ich runzelte die Stirn. Die Wüste erschien mir als der letzte Ort auf dieser Welt, an den sich ein Blitzschlag-Überlebender würde begeben wollen – zurück an den Ort, an dem er vom Blitz getroffen worden war.
»Nicht jeder Blitzschlag-Überlebende in dieser Stadt fühlt sich vom Rove angezogen, Katrina«, sagte Mr Kale. »Für diejenigen, die vor dem Beben getroffen wurden, hat er nicht dieselbe Anziehungskraft. Glaubst du, dass Mia Price dorthin geht? Wir sollten uns auf sie konzentrieren.«
Ich presste mir die Hand auf den Mund, um den erstickten Laut zu unterdrücken, den meine Kehle von sich geben wollte, als mein Name fiel.
Ich hörte Katrinas Lächeln aus ihrer Stimme heraus. »Tja, Mia kommt morgen früh zur Initiation hierher.«
»Niemals. Du lügst.« Das war Schiz.
»Sie hat nur die richtige Motivation gebraucht.«
Katrina erzählte den Anwesenden von der Abmachung, die sie mit mir
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