Die Auserwählte: Roman (German Edition)
irgendwas? Was zu essen, zu trinken?«
»Nein, danke.«
»Okay.«
Als er sich aufsetzte, fiel ihm sein welliges Haar über die Augen. Er schob es zur Seite, setzte seine Brille ab, klappte sie zusammen und legte sie auf den Nachttisch. »Ich kann damit nicht schlafen.«
Es war erstaunlich, wie verändert Jeremy ohne seine klobige Clark-Kent-Brille aussah. Allerdings konnte ich ihn nicht gut genug sehen, um ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Das einzige Licht im Raum war das des blassen Monds, der jetzt, kurz vor Tagesanbruch, tief am Himmel hing. Ich erinnerte mich an das andere Mal, als Jeremy in meinem Zimmer gewesen war, hatte aber seltsamerweise keine Angst mehr vor ihm. Kein bisschen.
»Jeremy«, sagte ich. Es gefiel mir, seinen Namen auszusprechen. Es gefiel mir fast genauso gut, wie zu hören, wenn er meinen Namen sagte.
»Ja, Mia?« Da war es wieder.
Ich kaute auf meiner Lippe und formulierte die Frage, die ich ihm stellen wollte, in Gedanken immer wieder um. »Wie funktionieren deine Visionen? Weißt du jemals, ob … ob etwas sicher ist? Ich meine, in Stein gemeißelt?«
»Ich betrachte sie als Möglichkeiten. Von denen manche wahrscheinlicher sind als andere.« Jeremy legte sich wieder hin, ließ die Augen aber offen und starrte an die Decke. »Je häufiger ich eine bestimmte Vision habe, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie eintritt.«
»Und mich hast du sehr oft gesehen«, sagte ich leise. Ich dachte an die Visionen, die Jeremy mir gezeigt hatte; die Visionen von mir und dem Tower und einem Unwetter, das aus dem Nichts auftaucht. Ich spürte, wie sich mein Magen auf eine Art und Weise verdrehte, die mir nicht gefiel.
Nightmare Boy. So hatte ich Jeremy genannt, als ich noch glaubte, ich hätte ihn nur geträumt. Wie sich herausstellte, war er derjenige, der mich geträumt hatte.
»In letzter Zeit sehe ich nur noch dich«, sagte Jeremy. »Dich in hundert verschiedenen Szenarien, aber am Schluss bist du immer …«
»Am Schluss bin ich immer auf dem Tower«, führte ich seinen Satz zu Ende. »Das wolltest du doch sagen, nicht wahr? Ich bin immer bei diesem Unwetter auf dem Tower.«
Jeremy schwieg lange Zeit. Schließlich sagte er: »Ja.« Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte das Gefühl, dass er mir einiges verheimlichte.
»Also nehme ich an, bei dieser Möglichkeit handelt es sich eher um eine Unvermeidbarkeit«, sagte ich.
»Vielleicht. Die Details ändern sich ständig. Das Einzige, was bislang immer gleich war, sind der Tower und das Unwetter. Diese Details ändern sich nie.«
»Wie lange ist das schon so bei dir?«, fragte ich leise.
Er ließ sich mit seiner Antwort so lange Zeit, dass ich ihn beinahe noch einmal gefragt hätte, da ich glaubte, er habe mich nicht gehört. »Seit meiner Kindheit«, antwortete er. »Die Visionen haben angefangen, als ich sechs war. Sie waren immer schrecklich, und es ging darin immer um Menschen, die sterben oder verletzt werden. Lange Zeit glaubte ich, ich hätte Wachträume oder würde verrückt werden. Aber dann, als ich acht war, habe ich … habe ich in einer Vision meine Mutter gesehen.« Er hielt sich die Augen zu. »Sie lag im Krankenhaus, und ich erkannte sie kaum. Sie siechte dahin und hatte keine Haare mehr. Zwei Monate später wurde bei ihr Magenkrebs diagnostiziert. Die Tumore wuchsen schnell. Wenn die Ärzte es früher erkannt hätten …« Er ließ die Hand sinken und holte tief Luft. »Die Visionen sind nicht willkürlich. Es gibt immer einen Grund für das, was ich sehe. Ich hätte meiner Mom helfen sollen, hätte dafür sorgen sollen, dass sie früher zum Arzt geht. Aber ich verstand nicht.«
Ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, wenn meine Mom bei dem Beben ums Leben gekommen wäre, und wie viel schlimmer es wäre, wenn ich wüsste, dass ich es hätte verhindern können. Vermutlich hätte ich mir das niemals verziehen. Jeremy hatte es sich offenbar auch nie verziehen.
»Du warst noch ein Kind«, sagte ich. »Du konntest nicht verstehen, was passiert.«
Er sah mich an, und seine Augen waren voller Traurigkeit und Schmerz und Wut. Langsam verstand ich, woher seine Intensität kam. Aber während er mich anstarrte, wurde sein Blick weicher. »In meiner ersten Vision überhaupt ging es um dich.« Er lächelte zaghaft. »Das waren die einzigen Visionen, auf die ich mich gefreut habe, obwohl …« Sein Lächeln verschwand. »Obwohl das, was ich gesehen habe, nicht gut war.«
Ich fragte nicht, was er von meinem Leben
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