Die Auserwählte
aus Glas gemacht waren und wo gemarterte Seelen auf einer Million übereinander aufragender Ebenen wie eine Milliarde verstreuter Glutfunken brannten, während sie bis in alle Ewigkeit unablässig von den rasiermesserscharfen Kanten ihres gefrorenen Gefängnisses aufgeschlitzt und geschnitten wurden.
Später war er in der Lage, diese fiebrige, furchteinflößende Vision von der stillen, friedlichen Vollkommenheit der wahren Stimme Gottes zu unterscheiden und zu erkennen, daß das, was er empfing, abermals nur aus seinem eigenen Innern stammte. Das waren seine Visionen, nicht Gottes; sie waren das Ergebnis der Furcht und des Entsetzens und der schuldbewußten Angst, die jeder in sich trägt und die gewisse Glaubensrichtungen – und ganz besonders das Christentum – sich zunutze machen und übersteigern, um ihre Anhänger besser in Schach halten zu können. Mein Großvater war eine neue Stimme, die glückselige, ewigwährende Hoffnung verkündete und eine gänzliche neue Art lehrte, sowohl die Welt als auch Gott zu sehen, doch er war weiterhin gezwungen, in der Zunge zu reden, die man ihm als Kind beigebracht hatte und die die anderen Menschen verstanden, und jene Sprache war mit einer Unzahl von Annahmen und Vorurteilen befrachtet und erzählte ihre eigenen Geschichten, selbst wenn Salvador sie benutzte, um seine ureigensten, brandneuen Geschichten zu offenbaren.
Die Vorstellung, daß es einen Teufel gibt, ist zweifelsohne mächtig und vielen verschiedenen Kulturen eigen, aber ich denke, daß unser Gründer recht daran tut, die satansfreie Natur unseres Glaubens zu betonen. Wir brauchen kein Schreckgespenst, um unseren Kindern damit Angst einzuflößen, und halten nichts davon, Erwachsenen eine Ausrede für ihre eigenen Fehler zu geben; unser Glaube ist ein moderner Glaube, geboren nach dem großen Blutvergießen des Krieges in der Mitte unseres schmerzensreichen Jahrhunderts, als die Menschheit sich endgültig als der wahre Teufel entlarvte. Ebenso wie Teufel in der Lage sind, uns sowohl Furcht als auch Trost zu geben – die Furcht erklärt sich von selbst, der Trost stammt daher, daß man die Möglichkeit erhält, sich der Verantwortung für das eigene Handeln zu entledigen –, so lassen sich auch Furcht und Trost aus der Erkenntnis ziehen, daß es keine Teufel gibt.
Natürlich bedeutet das, daß wir mehr von der Bürde der Verantwortung für unser Leben auf unseren eigenen Schultern tragen müssen, als dies bei anderen Religionen der Fall ist, und eins der Mißverständnisse in diesem Bereich, die mein Großvater über die Jahre aufgeklärt hat, ist die Häresie der Prüderie.
Die Häresie der Prüderie war das Ergebnis der ursprünglichen Lehre meines Großvaters, daß es zwar durch und durch falsch sei, die sexuellen Beziehungen unter Menschen derselben Generation zu beschränken, es im Gegensatz dazu aber rechtens sei, es bei Beziehungen zwischen den Generationen zu tun. Später änderte er dies und verfügte, daß nur in dem Falle, daß eine volle Generation zwischen zwei Menschen lag, ihre Liebe untersagt werden sollte. Ich denke, man kann hier abermals den göttlich inspirierten, doch menschlichen Mißverständnissen unterworfenen Propheten erkennen, der sich bemüht, die Stimme des Schöpfers über die Störgeräusche einer heuchlerischen und unter moralischer Verstopfung leidenden Gesellschaft zu verstehen, deren restriktive Lehren noch immer in seinen Ohren widerhallten. Sollen die Zyniker ruhig ihre eigenen Unzulänglichkeiten und verleugneten Sehnsüchte darin entdecken, was sie unserem Gründer unterstellen; ich bin überzeugt, daß er immer nur darauf bedacht war, nach bestem Vermögen die Wahrheit zu sagen, und wenn die Wahrheit ihn – als unseren Führer – zu einem besseren, erfüllteren Privatleben führt, dann sollten wir alle dankbar sein, sowohl um seinet- als auch um unseretwillen.
Es gibt ein Leben nach dem Tod, und die diesbezüglichen Vorstellungen unseres Glaubens haben sich über die Jahre ebenfalls entwickelt. Anfänglich, als sie noch das Konzept von Himmel und Hölle beinhalteten, waren sie recht konventionell und deutlich erkennbar vom Christentum inspiriert. Doch je geübter Großvater im Empfangen von Gottes Botschaften wurde, desto komplexer und differenzierter wurde die Vorstellung vom Leben nach dem Tode in der Gestalt der allumfassenden Gottheit. Tatsächlich könnte man beinahe sagen, daß unser Leben vor dem Tod nur eine Einstimmung ist, eine Art Ouvertüre zu der
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