Die Auserwählte
das alles in der Vorschule in der Gemeinde eingetrichtert worden). »Es ist kein Schaltjahr, wenn es durch einhundert teilbar ist. Wenn es durch vierhundert teilbar ist, ist es ein Schaltjahr.«
»Oh.«
»Nun, wie dem auch sei, ich glaube jedenfalls nicht, daß Salvador denkt, er würde das Jahr 2000 noch erleben.«
»Laß uns nicht länger um den heißen Brei herumreden, Is. Die Frage lautet, bist du bereit, Mutter zu werden, oder nicht? Das ist es doch, was sie von dir erwarten, oder?«
»Ja«, erwiderte ich kleinlaut. »Genau das wollen sie.«
»Nun, bist du bereit?«
»Ich weiß es nicht!« sagte ich lauter als gewollt; ich wandte den Blick ab und kaute an meinem Fingerknöchel.
Wir fuhren eine Weile schweigend weiter. Zu unserer Rechten trieben die Qualm- und Dampfwolken der Ölraffinerie von Grangemouth vorbei.
»Gehst du mit jemandem, Isis?« fragte Yolanda sanft. »Bist du in jemanden verliebt?«
Ich schluckte, dann schüttelte ich den Kopf. »Nein. Nicht wirklich.«
»Hattest du überhaupt schon mal einen Freund?«
»Nein«, gestand ich.
»Isis, ich weiß, daß ihr hier drüben Spätentwickler seid, aber verflucht noch mal, du bist neunzehn; magst du denn keine Jungs?«
»Ich mag sie durchaus, ich will einfach nur nicht…« Ich verstummte, während ich mich fragte, wie ich es ausdrücken sollte.
»Du willst nicht mit ihnen vögeln?«
»Nun«, erwiderte ich errötend. »Ich glaube nicht.«
»Wie steht’s mit Mädchen?« Yolanda klang ein wenig überrascht, aber hauptsächlich schlicht interessiert.
»Nein, auch nicht wirklich.« Ich beugte mich vor, die Ellenbogen auf meine Oberschenkel gestützt, das Kinn in meinen Händen, und starrte verdrossen die Autos und Laster vor uns auf der Autobahn an. »Ich weiß nicht, was ich will. Ich weiß nicht, wen ich will. Ich kann noch nicht einmal sagen, daß ich will.«
»Du meine Güte, Isis!« sagte Yolanda und gestikulierte mit einer Hand. »Um so mehr Grund, Salvador zu sagen, er soll sich diese Idee sonstwo hinstecken! Herrgott noch mal, werd dir erst mal selbst klar darüber, was du eigentlich willst. Niemand, der dich wirklich liebt, wird sich auch nur einen feuchten Dreck darum scheren, ob du lesbisch bist oder zölibatär leben willst, aber werd bloß nicht schwanger wegen der vagen Möglichkeit, daß du am 29. Februar werfen könntest, nur um diesen alten Lüstling glücklich zu machen!«
»Großmutter!« rief ich zutiefst schockiert aus. »Meinst du damit etwa Salvador?«
»Wen denn sonst?«
»Er ist unser Gründer! Du kannst nicht so abfällig über ihn reden!«
»Isis, Kind«, sagte Yolanda kopfschüttelnd. »Du weißt, daß ich dich liebe, und Gott stehe mir bei, ich habe sogar was für diesen alten Gauner übrig, weil ich glaube, daß er im Grunde seines Herzens ein guter Mensch ist, aber er ist ein Mann; ich meine, er ist nur ein Mensch, und er ist durch und durch ein Mann, wenn du verstehst, was ich meine? Ich könnte nicht beschwören, daß tatsächlich etwas Heiliges an ihm ist; es tut mir leid, das sagen zu müssen, weil ich weiß, daß es dir weh tut, aber – «
»Großmutter!«
»Still! Laß mich ausreden, Kind. Ich habe in meinem Leben wohl jede verdammte Sekte und jede Glaubensgemeinschaft und jede Religion und jede Pseudo-Religion gesehen, die die Welt zu bieten hat, und es kommt mir so vor, als ob dein Großvater mit einer Sache recht haben könnte: Sie alle suchen nach der Wahrheit, aber sie finden sie nicht, nicht die ganze Wahrheit jedenfalls, keiner hat sie gepachtet, und das gilt auch für euch; ihr seid nicht einen Deut besser als all die anderen.«
Ich saß mit offenhängendem Mund da, bestürzt über das, was ich da hörte. Ich hatte immer gewußt, daß Großmutter Yolanda nicht die strikteste Anhängerin unseres Glaubens war, aber ich war immer überzeugt gewesen, daß sich unter all dieser Rastlosigkeit und Verschwendungssucht doch ein Kern wahrer Religiosität finden würde.
»Und weißt du, was ich denke? Ich denke, es ist alles ein Haufen Bockmist. Ich bezweifle nicht, daß es einen Gott gibt, wenn das auch vielleicht mehr Gewohnheit denn wahrer Glaube ist, aber ich nehme nicht an, daß irgend jemand in irgendeiner Religion je etwas Relevantes über Ihn oder Sie oder Es gesagt hat. Ist dir noch nie aufgefallen, daß Religionen anscheinend immer von Männern erfunden werden? Wann hätte man je von einem Kult oder einer Sekte gehört, die von einer Frau gegründet wurde? Fast nie. Frauen tragen die Gabe
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