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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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meines Hemdes umklammerte. Ich starrte in das krebsrote, zornige Gesicht meines Großvaters.
    »Ich lüge nicht!« rief ich aus.
    »Das tust du, Kind! Gestehe es! Öffne deine Seele! Laß das Gift heraus!« Sein Körper wälzte sich schwer auf den meinen, preßte meine Knie gegen meine Brust. Er schüttelte mich an den Schultern; ich fühlte, wie Whisky eisig aus meinem Glas auf meine Hand schwappte. Ich tastete, suchte nach einer Stelle, wo ich das Glas abstellen konnte, ohne es umzukippen und den Inhalt zu verschütten, damit ich beide Hände frei hätte, aber ich konnte nur zerknülltes Bettzeug fühlen.
    »Welches Gift?« keuchte ich, atemlos von dem Druck auf meiner Brust. »Es gibt kein Gift! Mein Gewissen ist rein!«
    »Lüg mich nicht an, Isis!«
    »Ich lüge nicht!« schrie ich abermals. »Es ist alles wahr!«
    »Warum bekennst du dich nicht endlich zu deiner Schuld?« donnerte er und schüttelte mich wieder. »Warum willst du deine Sünde noch vergrößern?« Sein Atem war warm und roch nach Whisky.
    »Das tue ich nicht! Es gibt keine Sünde, die ich vergrößern könnte!«
    »Du hast das Sakrament genommen! Du hast es gestohlen!«
    »Nein! Nein! Warum sollte ich?«
    »Weil du mich haßt!« brüllte er.
    »Das tue ich nicht!« keuchte ich unter Schmerzen. »Das tue ich nicht; ich liebe dich! Großvater, warum tust du das? Bitte, laß mich los!«
    Er rutschte seitlich von mir herunter, plumpste gegen den Fuß des umgestürzten Kissenbergs und blieb auf der Seite neben mir liegen; er starrte mich an, die Augen noch immer feucht von Tränen. »Du liebst mich nicht«, sagte er mit heiserer Stimme. »Du willst meinen Tod, du willst mich aus dem Weg haben. Du willst jetzt alles für dich selbst haben.«
    Ich richtete mich mühsam auf meinen Knien auf, konnte endlich das Glas auf dem Bord abstellen und kniete mich neben ihn, meine Hand auf seiner Schulter, während er röchelnd dalag und an die gegenüberliegende Wand starrte.
    »Liebst mich nicht«, murmelte er. »Du liebst mich nicht…«
    »Großvater, ich liebe dich um deiner selbst willen, für alles, was du für mich getan hast, dafür, daß du für Allan und mich gesorgt hast, als wären wir deine eigenen Kinder, aber ich liebe dich doppelt; ich liebe dich auch als den Gründer unseres Glaubens. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals jemand anders auch nur halb so sehr zu lieben; nicht ein Viertel so sehr!« Ich senkte meinen Kopf, bis er neben dem seinen war. »Bitte, du mußt mir glauben. Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben, und das wirst du auch immer bleiben! Egal, was passiert! Ich liebe dich mehr als… alles andere!«
    Er wandte sein Gesicht von mir ab und vergrub es im Bettzeug.
    »Nein«, sagte er, seine Stimme gedämpft, doch fest und ruhig. »Nein, das glaube ich nicht; ich habe der Stimme Gottes gelauscht, und sie hat mir das Maß deiner Liebe zu mir offenbart. Einst kannte diese Liebe kein Maß, doch jetzt… obgleich ich glaube, daß sie über dein Maß geht.«
    Ich verstand nicht. »Großvater, du bedeutest uns allen alles. Du bist unser Licht, unser Führer, unser Oberhaupt! Wir brauchen dich. Ohne dich wären wir alle Waisen, aber mit deinen Lehren, mit deiner Orthographie und deinem Vorbild haben wir endlich Hoffnung, ganz gleich, was die Zukunft bringen mag. Ich weiß, daß ich niemals deinen Platz einnehmen und dir niemals gleichkommen kann; ich würde das auch niemals versuchen, aber vielleicht kann ich als Auserwählte und als Tochter deines Sohnes einen Abglanz deiner Erhabenheit widerspiegeln, ohne ihr damit Schande zu tun, und mit Hilfe deiner Lehren zu einem würdigen Oberhaupt der Gemeinschaft heranwachsen. Das ist mein…«
    Er drehte den Kopf so, daß er mich ansah; das weiche gelbe Kerzenlicht ließ die Tränen in seinen Augen funkeln. »Das sind schöne Worte, Isis, aber du hast ein sorgloses Leben geführt. Wir haben alle Härte und alle Unbilden von dir ferngehalten, alle Opfer und allen Zweifel und allen Schmerz.«
    »Ich bin bereit für sie alle, für meinen Glauben!«
    Er sah mir forschend in die Augen. »Das bezweifle ich«, erklärte er und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Das sagst du so, aber… ich bezweifle es. Du denkst nur, dein Glaube wäre stark genug!«
    »Mein Glaube ist stark genug!«
    »Er wurde noch nie auf die Probe gestellt, Isis. Meiner wurde auf die Probe gestellt, deiner – «
    »Dann stelle meinen auf die Probe!«
    »Das kann ich nicht«, erwiderte er. »Gott kann es und würde es

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