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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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Betonung spricht, sondern zu einem schwerhörigen Menschen. »Und jetzt setzen Sie sich wieder in Ihren Sessel; ich komme gleich und bringe Sie ins Bett, in Ordnung?« Das Mädchen drehte Miss Carlisle sanft mit einer Hand herum und versperrte ihr sorgsam den Weg zur Eingangstür, indem sie diese halb schloß.
    »Hören Sie«, sagte das Mädel zu mir. »Es tut mir echt leid, Herzchen, aber ich darf Sie nicht reinlassen; geht einfach nich’. Ich hab hier so schon alle Hände voll zu tun, verstehen Sie?«
    »Sind Sie sicher, daß es nicht mein Johnny ist, Kindchen?« fragte die schwache, zittrige Stimme aus der Diele.
    »Nun, dann werde ich eben hierbleiben, bis Sie mich hereinlassen«, erklärte ich.
    »Aber ich kann Sie nich’ reinlassen. Ehrlich. Ich darf es einfach nicht. Tut mir leid.« Irgendwo im Hintergrund erscholl ein Krachen, und das Mädel schaute hinter sich. »Ich muß jetzt gehen. Muß sein. Tut mir leid…«
    »Hören Sie, Sie laufen hier Gefahr, daß ich einen Zivilprozeß gegen Sie – « begann ich, doch die Tür schloß sich, und ich hörte, wie ein Riegel einrastete.
    Ich konnte gedämpfte Worte hinter der Tür vernehmen. »Nee, Miss Carlisle, es is’ nich’…«
    Ich beschloß zu warten. Ich würde es später noch einmal versuchen und sehen, ob sich schlichte Beharrlichkeit auszahlte. Ich fragte mich, ob diese junge Frau die Nachtschicht darstellte oder ob sie später abgelöst werden würde. Ich stellte meinen Seesack auf den Stufen ab und setzte mich darauf. Ich holte meine Ausgabe der Orthographie heraus und las im schwindenden Licht des noch immer klaren Himmels einige Passagen.
    Ich fand jedoch keine Ruhe, und so stand ich nach einer Weile auf und schlenderte einmal um das Haus. Zu einer Seite befand sich eine abgeschlossene Pforte, doch auf der anderen Seite gab es einen freien Durchgang. Große graue und gelbe Mülltonnen auf Rädern standen entlang der Rauhputzwand unter einer schwarzen, metallenen Feuerleiter aufgereiht. Der hintere Garten war voll von weißen Laken und grauen Decken, die zum Trocknen aufgehängt worden waren und nun schlaff in der windstillen Luft baumelten. Ich kam zur Rückfront des Hauses. Ich rüttelte vorsichtig an der Hintertür, aber sie war abgeschlossen.
    Dann hörte ich unvermittelt ein leises Klopfen. Ich erwartete, daß es von der jungen Frau in der Schwesternuniform käme, die mich wegscheuchen wollte, aber es war dieselbe alte Dame, die zuvor hinter der Krankenschwester aufgetaucht war: Miss Carlisle. Sie trug einen dunklen Morgenmantel und stand an einem kleinen Fenster an der Seite des Flügels, der Ausblick über den Feldweg bot. Sie klopfte abermals gegen die Scheibe und winkte mich heran. Ich ging hinüber und stellte mich unter das Fenster. Sie fummelte am unteren Fensterrahmen. Nach einer Weile öffnete sich das Fenster einen Spalt und drehte sich um seine Mittelachse, bis es horizontal stand. Die alte Dame reckte den Kopf heraus.
    »Ssschh«, sagte sie und legte einen dürren, milchfarbenen Finger an ihre Lippen. Ich nickte und erwiderte die Geste. Die alte Dame winkte mich herein. Ich schaute mich um. Es wurde langsam dunkel, und man konnte nur noch schlecht sehen, aber es schien nicht so, als würde uns jemand beobachten. Ich hob zuerst meinen Seesack durchs Fenster, dann kletterte ich über den Sims.
    Ihr Zimmer war klein und roch… nach einem alten Menschen; nach körperlichen Ausscheidungen, die irgendwie rein waren, da das versagende System ihre Rohstoffe nicht mehr richtig verarbeitet hatte, so daß das Anstößige unanstößig wurde. Da war auch ein schwacher angenehmer Duft; Veilchen, wie ich vermeinte. Ich konnte einen Kleiderschrank, Kommoden, einen Schminktisch und einen kleinen Sessel ausmachen. Außerdem gab es noch ein schmales Einzelbett, das Bettzeug zerwühlt, als wäre die alte Dame gerade aufgestanden.
    »Ich habe immer gewußt, daß du zurückkommen würdest«, sagte sie und umfaßte mich in einer wohl innig gemeinten Umarmung. Die alte Dame war so winzig und so zerbrechlich; es war eher so, daß sie sich einfach nur gegen mich lehnte und ihre Arme um mich legte. Ihr winziger Kopf ruhte an meiner Brust. Ich blickte auf das durchscheinende, spärliche weiße Haar; als sich meine Augen an das Schummerlicht gewöhnt hatten, konnte ich sehen, daß ihre Kopfhaut blaßrosa und gänzlich bedeckt mit kleinen, hellbraunen Flecken war. Die alte Dame stieß einen Seufzer aus.
    Ich legte meine Arme um sie und drückte sie ganz leicht

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