Die Auserwählte
an mich, aus Angst, ich könnte sie zerquetschen.
»Mein liebster Johnny«, seufzte sie. »Endlich.«
Ich schloß die Augen und hielt sie sanft an mich gedrückt. So standen wir eine Weile da und umarmten einander, bis mir langsam schwante, daß sie eingeschlafen war.
Ich löste mich ganz sanft aus ihren Armen und legte sie vorsichtig aufs Bett, zog die Bettdecke unter ihr hervor, um ihre Beine und Füße zuzudecken, richtete ihr langes Nachthemd und deckte sie ordentlich zu. Sie schnarchte einmal leise und drehte sich auf die Seite. Soweit ich es erkennen konnte, lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
Ich öffnete die Tür. Am Ende des Flurs brannte ein Licht; kein Geräusch war zu hören. Der schwache Geruch von Heimverpflegung hing in der Luft. Miss Carlisles Tür trug die Nummer 14, und etwa auf Augenhöhe war ein kleines, weißes Pappschild mit ihrem Namen in einem Plastikschieber angebracht. Ich entspannte mich ein wenig. Das sollte die Sache erleichtern. Ich warf noch einmal einen Blick zurück in das Zimmer. Durch das Fenster konnte ich das Mädel in der Krankenschwester-Uniform draußen im Garten sehen, wie sie die Wäsche abnahm; sie zerrte die Laken und Decken von der Leine und warf sie in einen Waschkorb. Ich schlang mir meinen Seesack über die Schulter, schloß leise die Tür hinter mir und schlich lautlos den Flur entlang.
Ich las alle Namen auf den Türen; keine Spur von Zhobelia. Zu einer Seite des Flurs gab es eine Tür mit einem Drahtglasfenster, die zum Hauptgebäude führte. Ich spähte durch die Scheibe in einen schummrig beleuchteten Korridor.
Die Tür knarrte, als ich hindurchging. Ich blieb stehen. Ich konnte Musik hören und dann eine Männerstimme, verzerrt und professionell fröhlich, dann wieder Musik. Ich ging weiter und entdeckte zwei weitere Zimmer mit Namensschildern, die zur Vorderseite des Hauses hin lagen.
Auf dem ersten Namensschild stand »Mrs. Asis«. Ich schaute mich um, klopfte der Form halber ganz leise an, dann öffnete ich vorsichtig die Tür und betrat das dunkle Zimmer.
Es war größer als das von Miss Carlisle. Ich sah zwei Einzelbetten und befürchtete einen Moment lang, Zhobelia könnte ihr Zimmer mit jemandem teilen; das würde alles verkomplizieren. Doch ich hätte mir gar keine Sorgen zu machen brauchen; es war niemand im Zimmer. Ich fragte mich gerade, was ich nun tun sollte, als ich schleppende Schritte und zwei Stimmen herannahen hörte.
Es gab zwei Kleiderschränke. Ich öffnete den einen, doch er war voll; der Versuch, mich und meinen Seesack hineinzuzwängen, hätte sicher mehrere Minuten in Anspruch genommen und noch dazu einiges an Lärm gemacht. Der andere Kleiderschrank war abgeschlossen. Ich untersuchte eilig das nächststehende Bett; es hatte einen rundum geschlossenen Bettkasten mit Schubladen. Die Stimmen hatten mittlerweile die Tür erreicht. Ich zog die Tagesdecke des zweiten Bettes hoch. O Freude über Freude! Das Bett hatte ein altmodisches Eisengestell. Viel Platz. Ich schob einen Plastik-Nachttopf aus dem Weg und verschwand unter der Tagesdecke, keine fünf Sekunden, bevor die Tür aufging. Der Teppich unter dem Bett roch nach altem Staub und – ganz leicht – nach Erbrochenem.
»Ich will noch nicht ins Bett gehen, Sie abscheuliches Kind«, sagte eine Stimme, die ich wiederzuerkennen vermeinte; ein sonderbares Gefühl – halb vertraut, halb schwindelerregend neu – durchströmte mich.
»Aber, aber, Mrs. Asis. Sie müssen doch Ihr Schönheitsschläfchen machen, oder?«
»Ich bin nicht schön, ich bin alt und häßlich. Reden Sie nicht solchen Unsinn. Sie reden viel Unsinn. Warum stecken Sie mich jetzt schon ins Bett? Was soll das denn? Es ist ja noch nicht einmal dunkel.«
»Doch, das ist es; schau’n Sie doch nur.«
»Das sind nur die Vorhänge.«
Das Licht wurde klickend angeschaltet. »Na also, so ist’s doch besser, oder? Werden Sie jetzt ins Bett gehen?«
»Ich bin kein Kind mehr. Sie sind das Kind. Ich hätte bei dem weißen Mann bleiben sollen. Er würde mich nicht so behandeln. Wie können sie mir das antun?«
»Aber, aber, Mrs. Asis. Kommen Sie. Ziehen Sie die Strickjacke aus.«
»Ach… « Es folgte ein Sturzbach von Worten in Gälisch oder Khalmakistani oder einer Mischung aus beidem. Ich habe gehört, daß es im Gälischen keine wirklichen Schimpfworte gäbe, also erfand Zhobelia – dem Klang nach zu urteilen – entweder ihre eigenen oder sie wütete in der Sprache ihrer Vorfahren.
Nach einer Weile hörte ich
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