Die Auserwählte
Wochen kaum mit meinem Gott gesprochen, und ich hatte die Werke der Unerretteten mit fast der gleichen Selbstverständlichkeit wie diese selbst benutzt, hatte telefoniert, war Auto und Bus und Zug gefahren, mit dem Flugzeug geflogen, hatte Einzelhandelsgeschäfte betreten und einen ganzen Abend damit zugebracht, all die durch und durch hedonistischen Vergnügungen einer der größten Metropolen der Welt zu genießen, auch wenn diese letzte Sünde zugegebenermaßen in der Gesellschaft einer energischen und entschieden sinnesfreudigen Verwandten begangen worden war, die einer fremden Kultur entstammte, in der das Streben nach Spaß, Profit und Selbsterfüllung praktisch ein göttliches Gebot ist. Darüber hinaus hatte ich mir – abermals in jenem Büro im Herrenhaus – eisern geschworen, daß ich jegliche Wahrheit, die ich aufdecken sollte, wie einen Hammer benutzen würde, um all jene um mich herum damit niederzuschmettern, ohne zu wissen, wie zerbrechlich sogar jene sein mochten, die ich liebte.
Was für eine hübsche Veränderung doch in mir vorgegangen war! Ich schüttelte den Kopf, während ich mir die Patchwork-Landschaft anschaute. Ich fragte mich – seltsamerweise zum ersten Mal –, ob es mir tatsächlich möglich sein würde, in mein altes Leben zurückzukehren. Vor gerade mal zwei Tagen hatte ich in meinem Zimmer gestanden und bei mir gedacht, daß sich mein Leben nicht an meinen Besitztümern ermessen ließe, sondern gänzlich durch meine Beziehung zu den Menschen in der Gemeinde und zum Hof und den Ländereien um uns herum definiert wurde… doch nun war ich von alldem ausgestoßen worden – hinsichtlich der Entfernung sicher nicht so erfolgreich, wie mein Bruder sich erhofft hatte, doch mit Entschiedenheit und mit einer fortgesetzten böswilligen Absicht, an der ich nicht zweifelte – und ich wunderte mich darüber, daß ich mich nicht noch verlorener und ausgestoßener fühlte, ja, gar exkommuniziert.
Sicher, ich besaß meine Gabe, aber die unheimliche und nun verschmähte – Fähigkeit, andere zu heilen, konnte für sich selbst betrachtet kaum als Trost dienen; tatsächlich bot sie nur ein weiteres Kriterium, anhand dessen man mich als andersartig und nicht zu den anderen gehörig erachten konnte.
Vielleicht lag es daran, daß ich nicht vorhatte, lange ausgestoßen zu bleiben, und daß ich die dringende, doch seltsam tröstliche Absicht hegte, eine triumphale Rückkehr zu inszenieren, in der Hand das feurige Schwert der Wahrheit, um damit all jene zu erschlagen, die mir Unrecht getan hatten. Vielleicht lag es auch schlichtweg daran, daß meine Erziehung mir eine Kraft und Unabhängigkeit gegeben hatte, die – wenn auch zweifelsohne zum Teil Ergebnis all der Zuwendung und Liebe, die ich von meiner Familie, unserem Glauben und meiner Umgebung empfangen hatte – nunmehr zum eigenständigen Charakterzug geworden war, just so, wie ein zarter Schößling, den der umgebende Wald vor dem unerbittlichen Wind schützte, langsam heranreift, bis er – sollten diese schützenden Bäume gefällt werden – ihrer Hilfe längst nicht mehr bedurfte, sondern für sich allein stehen konnte, zuversichtlich vertrauend auf seine eigene Kraft und Stärke und seinerseits in der Lage, anderen Schutz zu geben, wenn es an der Zeit dazu war.
Jedenfalls gingen so meine Gedanken, während der Zug durch kleine Bahnhöfe schnaufte, zwischen den grünen Wänden von kleinen Tälern dahinratterte, seinen Schatten auf die Nordseiten der Straßenböschungen, Felder, Wälder und Hügel dahinter warf und mich unaufhaltsam, wie ich hoffte, näher zu meiner Großtante Zhobelia trug. Meine Pläne für den Abend sahen dergestalt aus, zuerst Zhobelia aufzusuchen und dann nahe einer Ortschaft im Freien zu campieren oder mir ein Bed & Breakfast zu suchen. Für den Fall, daß mein Besuch bei Zhobelia rechtzeitig zu Ende sein sollte, hatte ich mir als Alternative überlegt, mit dem Zug nach Glasgow zurückzukehren und Bruder Topec aufzusuchen, der dort an der Universität studierte, doch ich war nicht überzeugt, ob dies tatsächlich klug wäre.
Topec ist sowohl ein Freund als auch ein Verwandter von mir (seine Mutter ist Schwester Erin, sein Vater Salvador), und ich könnte mich vermutlich auf seine Diskretion verlassen, wenn ich plötzlich an seiner Tür auftauchte, statt mit Mo nach Spayedthwaite oder allein nach London gefahren zu sein, wie ich es in meiner Nachricht angedeutet hatte; ich war mir jedoch nicht sicher, ob es rechtens
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