Die Auserwählte
nicht mehr hin, nicht so sehr aus Langeweile, sondern weil ich mich so konzentrieren mußte, um nicht zu niesen. Ich preßte die Zunge mit aller Kraft gegen den Gaumen und drückte einen Finger ganz fest unter meine Nase, bis der Schmerz mir schon fast die Tränen in die Augen schießen ließ. Diese Taktik funktionierte wie üblich, aber es war knapp.
Nach einer Weile war Zhobelia erfolgreich in das andere Bett verfrachtet worden, und das Mädel wünschte ihr eine gute Nacht, schaltete das Licht aus und schloß die Tür. Zhobelia wütete weiter leise in der Dunkelheit vor sich hin.
Ich stand nun vor der heiklen Aufgabe, meine Großtante wissen zu lassen, daß jemand bei ihr im Zimmer war, ohne daß sie vor Schreck einen Herzanfall bekam oder sie nach Leibeskräften Zeter und Mordio schrie.
Wie es sich ergab, wurde dieses Dilemma von meiner Lunge oder, besser gesagt, von meiner Nase gelöst. Der Drang zu niesen kehrte zurück, diesmal noch übermächtiger. Ich versuchte, dagegen anzukämpfen, doch ohne Erfolg.
Ich hielt den Mund geschlossen und verschloß meine Kehle mit meiner Zunge, so daß der Nieser nach hinten losging und in meine Lunge explodierte. Trotz meines Versuchs, lautlos zu niesen, war das Geräusch deutlich hörbar. Zhobelias Gemurmel verstummte abrupt.
Kapitel
Vierundzwanzig
Eine angespannte, unbehagliche Stille hing in der Luft.
Zhobelia murmelte irgend etwas.
»Großtante Zhobelia?« sagte ich leise.
Sie murmelte abermals etwas. »Großtante?« sagte ich.
»… ich… jetzt höre ich Stimmen«, murmelte sie. »O nein.«
»Großtante, ich bin’s, Isis. Deine Großnichte.«
»Ich sterbe. Das muß es sein. Ich höre die kleine Isis. Als nächstes werde ich sie hören, und dann ihn.«
»Großtante, du hörst keine Stimmen.«
»Jetzt lügen sie mich auch noch an und sagen mir, ich würde sie nicht hören. Womit habe ich das verdient?«
»Großtante – «
»Es klingt wie Calli, nicht wie Isis. Sie ist doch noch ein Kind. Als nächstes werden sie es sein: Aasni und dann der weiße Mann. Ich frage mich, was sie wohl sagen werden?«
»Bitte, Großtante Zhobelia, ich bin es wirklich. Isis. Ich liege unter dem Bett. Ich werde jetzt hervorkommen; bitte, erschrick nicht.«
»Nein, es ist immer noch sie. Das ist komisch. Ich hatte mir das Sterben anders vorgestellt…«
Ich kam ganz langsam auf der anderen Seite des Bettes hervor, damit ich nicht unvermittelt direkt vor Zhobelia auftauchen würde. Ich richtete mich auf. Das Zimmer lag im Dunkeln. Ich konnte gerade noch die dunklen Umrisse der Möbel ausmachen und den recht massigen Leib meiner Großtante auf dem Bett erahnen.
»Großtante; hier drüben«, flüsterte ich.
Ich bemerkte eine Bewegung am Kopfende des Bettes und hörte das leise Rascheln von Haut oder Haaren auf Stoff. »Oo-oh«, hauchte sie. »Ooooh! Jetzt kann ich es sehen. Es ist ein Geist.«
Du lieber Gott, es war, als wäre ich wieder Miss Carlisles Johnny. »Ich bin kein Geist, Großtante. Ich bin es, Isis. Ich bin wirklich hier. Ich bin kein Geist.«
»Jetzt sagt der Geist, er wäre kein Geist. Was kommt wohl als nächstes?«
»Großtante!« sagte ich und hob aufgebracht die Stimme. »Herrgott noch mal, willst du mir wohl zuhören? Ich bin kein Geist!«
»Du meine Güte. Jetzt habe ich ihn wütend gemacht. O nein.«
»O Großtante, bitte, hör mir zu!« Ich baute mich am Fußende des Bettes auf. »Ich bin’s, Isis. Deine Großnichte; ich bin von der Gemeinde in High Easter Offerance hergekommen. Ich muß mit dir reden. Ich bin ein Mensch wie du, keine übernatürliche Erscheinung.«
Schweigen. Dann murmelte sie etwas, in Khalmakistani, wie ich vermutete. Dann in Englisch: »Du bist nicht die kleine Isis. Sie ist doch noch… klein.«
Herrjemine. »Großtante, ich bin jetzt neunzehn Jahre alt. Als du mich das letzte Mal gesehen hast, war ich klein. Aber jetzt bin ich es nicht mehr; ich bin eine ausgewachsene Frau.«
»Bist du sicher?«
»Was?«
»Du bist kein Geist?«
»Nein. Ich meine, ja. Ich bin sicher, daß ich kein Geist bin. Es gibt mich wirklich. Ich würde gern mit dir reden, wenn, du nichts dagegen hast. Es tut mir leid, daß ich mich hier verstecken mußte, um dich zu sehen, aber die junge Frau wollte mich nicht hereinlassen… Darf ich mit dir reden?«
»Mit mir reden?«
»Bitte. Darf ich?«
»Hmm«, sagte sie. Ich spürte, wie sie sich bewegte. »Berühre meine Hand.«
Ich trat vor, dann ging ich neben dem Bett in die Hocke und
Weitere Kostenlose Bücher