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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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viele Dinge gesehen.« Sie lachte leise. »Dein armer Großvater. Er hatte nur eine einzige wirkliche Vision; ich denke, ich muß ihm die Gabe eine Zeitlang geborgt haben, als er dort auf dem Boden des Lieferwagens lag, bedeckt mit Tee und Schmalz. Der Arme; er dachte, es wäre diese Sache mit dem neunundzwanzigsten Februar, die aus einem Menschen etwas Besonderes machte. Aber er hatte wirklich etwas ganz Besonderes an sich. Anders kann man es wohl nicht sagen. Das einzige, was mich in meinem Leben je wirklich überrascht hat, war sein unvermutetes Auftauchen; ich hatte nicht die leiseste Vorahnung, daß es geschehen würde. Nicht die geringste. Daher wußten wir, daß er etwas Besonderes war. Aber Visionen? Nein, er hatte diese eine und wachte damit auf und fing an zu plappern, während er versuchte, das Ganze aufzubauschen. Typisch Mann halt; gib ihnen ein Spielzeug, und sie müssen damit spielen. Sie sind nie zufrieden. Aber was den Rest angeht…« Sie kniff ihre Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
    »Den Rest von was?« fragte ich schluckend.
    »Den Visionen. Die Seetang-Fabrik, die Hängematte, diese Possils, Mrs. Woodbean, die Geburt deines Vaters und dann deine Geburt und das Feuer; das alles habe ich gesehen, nicht er. Und wenn ich auch nicht jedesmal alles ganz genau vorhergesehen habe, so wußte ich doch zumindest, was ich wollte – was Aasni und ich wollten, und wir haben deinen Großvater dazu bekommen, das zu tun, was wir für richtig hielten, was unserer Ansicht nach nötig war, für uns alle. Das ist der Ärger mit den Männern, verstehst du? Sie denken, sie wüßten, was sie wollen, aber sie wissen es nicht, für gewöhnlich zumindest. Man muß es ihnen sagen. Man muß ihnen hin und wieder auf die Sprünge helfen. Also hab ich’s ihm gesagt. Du weißt schon; Bettgeflüster. Nun, ich hab’s ihm vorgeschlagen. Man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Aber wenn es sich um die Warnung vor einem Unglück handelt, nun, was soll man da tun? Du siehst ja, was mit dem Geld passiert ist.«
    »Du hast den Brand im Herrenhaus vorhergesehen?« flüsterte ich, und abermals schossen mir Tränen in die Augen, auch wenn es diesmal nicht daran lag, daß meine Kehle trocken war.
    »Ein Unglück, Kind«, gab Zhobelia gelassen zurück; scheinbar bemerkte sie meine Tränen nicht. »Ich habe ein Unglück gesehen, mehr nicht. Wenn ich gesehen hätte, daß es sich um ein Feuer handeln würde, dann hätte ich natürlich nie im Leben vorgeschlagen, das Geld zu verbrennen. Aber ich habe nur irgendein Unglück gesehen, nicht, welcher Art es sein würde. Hätte mir natürlich denken sollen, daß es trotzdem passiert.« Sie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »So ist das mit der Gabe nun mal. Aber man muß es trotzdem versuchen. Hier, mein Kind«, sagte sie und zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel. »Trockne dir die Augen.«
    »Danke.« Ich tupfte meine Augen trocken.
    »Gern geschehen.« Sie seufzte und zog die Strickjacke fester um sich. »Ich war heilfroh, als es damit endlich ein Ende hatte, das kannst du mir glauben. Ich hoffe, es war für dich kein solcher Schlag wie für mich, aber wenn es so ist, dann fürchte ich, daß du es einfach hinnehmen mußt.« Sie sah mich besorgt an. »Wie war es für dich, Kind? Kommst du damit zurecht? Nimm dir meinen Rat zu Herzen: Laß die Männer die Konsequenzen tragen. Sie heimsen sowieso die Lorbeeren für alles Gute ein, das daraus entsteht. Aber es ist so schön, wenn es zu Ende ist; das ist der Segen, verstehst du? Daß immer nur ein Mensch zur Zeit die Gabe besitzt: Es ist so schön, wieder Überraschungen zu erleben. Es war eine nette Überraschung, dich heute abend hier zu sehen. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, daß du kommen würdest. Einfach wunderbar.«
    Ich reichte Zhobelia ihr Taschentuch zurück; sie stopfte den nassen Ballen in ihren Ärmel; das Knäuel hatte die Form der Innenseite meiner Faust. »Wie lang dauert diese… Gabe…?«
    »Was, Kind? Wie lange du sie haben wirst? Ich weiß es nicht.«
    »Wie lange gibt es sie schon? Wird sie nur in unserer Familie weitergegeben?«
    »Nur unter den Frauen; es kann jede der Frauen treffen, aber immer nur bei einer zur Zeit. Wie lange? Ich weiß es nicht. Es gibt da einige kindische Vorstellungen… ich habe gewisse dumme Dinge gehört…« Sie schüttelte hastig und abfällig den Kopf. »Aber damit solltest du dich gar nicht erst belasten. Menschen sind so leichtgläubig.«
    »Leichtgläubig«, wiederholte

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