Die Auserwählte
verschwinden, sonst erwischen sie dich.«
»In Ordnung.« Ich stand auf, richtete das andere Bett wieder her, entfernte die Tagesdecke von der Türschwelle und legte Zhobelias Kleider zurück auf das Bett. Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und rieb mir das Gesicht. Dann ging ich neben Zhobelias Bett in die Hocke und ergriff wieder ihre Hand. »Erinnerst du dich, was ich dich letzte Nacht gefragt habe?« flüsterte ich. »Möchtest du bei uns wohnen?«
»Ach, das? Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Ich hatte es schon wieder vergessen. Aber ich werde darüber nachdenken, mein Kind, wenn ich mich daran erinnere.«
»Bitte tu das, Großtante.«
Sie runzelte die Stirn. »Hab ich dir letzte Nacht von den Dingen erzählt, die ich früher gesehen habe? Von der Gabe? Ich glaube, ja. Ich hätte es dir schon früher erzählt, aber du warst noch nicht alt genug, um es zu verstehen, und ich mußte vor ihrem Geist fliehen. Hab ich’s dir erzählt?«
»Ja«, erklärte ich ihr und drückte sanft ihre zarte, trockene Hand. »Ja, du hast mir von den Visionen erzählt. Du hast das Wissen um sie weitergegeben.«
»Ah, gut. Das freut mich.«
Ich hörte Stimmen draußen im Flur. Sie entfernten sich wieder, aber ich stand trotzdem auf und küßte Zhobelia auf die Stirn. »Ich muß jetzt gehen«, erklärte ich ihr. »Aber ich komme dich wieder besuchen. Und ich bringe dich von hier fort, wenn du nach Hause kommen möchtest.«
»Ja ja, mein Kind. Paß auf dich auf und sei brav. Und denk immer dran: Die Männer dürfen es nicht erfahren.«
»Ich werde dran denken. Großtante…?«
»Ja, mein Kind?«
Ich schaute auf den Schuhkarton, der neben ihr auf dem Nachttisch stand. »Dürfte ich wohl das Soldbuch und die Zehnpfundnote mitnehmen? Ich verspreche, daß ich sie dir zurückgeben werde.«
»Natürlich, mein Kind. Möchtest du auch die Fotos mitnehmen?«
»Ich nehme das von Großvater mit, wenn ich darf.«
»Ja, ja. Du kannst den ganzen Stapel mitnehmen, wenn du möchtest. Mir ist das egal. Mir bedeutet das Ganze schon lange nichts mehr. Sollen sich doch die Jungen darum kümmern, wie ich immer sage. Nicht, daß die sich einen feuchten Kehricht darum scheren. Aber du tust es. Ja, du hast noch Mitgefühl und Anstand.«
Ich steckte die Fotografie, das Soldbuch und die Banknote in die Innentasche meiner Jacke. »Vielen Dank«, sagte ich.
»Gern geschehen.«
»Auf Wiedersehen, Großtante.«
»O ja. Mm-hmmm. Vielen Dank für deinen Besuch.«
Ich spähte durch die Vorhänge, um zu sehen, ob die Luft rein war, dann schob ich das Fenster hoch, ließ meinen Seesack auf den Gehweg darunter fallen und sprang mit einem Satz hinterher. Ich legte ein gutes Marschtempo vor und war keine Stunde später am Bahnhof Hamilton.
Ein Zug brachte mich nach Glasgow.
*
Ich saß da und schaute mir die Landschaft und die Gebäude und die Gleise an, während ich kopfschüttelnd vor mich hin murmelte. Es kümmerte mich nicht, welchen Eindruck ein derartiges Verhalten auf meine Mitreisenden machte, auch wenn ich bemerkte, daß niemand sich neben mich setzte, obgleich der Zug recht gut gefüllt schien.
Zhobelia. Visionen. Geld. Salvador. Whit. Black… All das zu all dem anderen, was ich in den letzten Tagen herausgefunden hatte. Wo würde das enden? Welche außergewöhnlichen Offenbarungen konnten mich noch erwarten? Ich konnte es mir nicht ausmalen und wollte es mir auch gar nicht vorstellen. Mein Leben hatte sich in so kurzer Zeit in so vieler Hinsicht wieder und wieder verändert. Alles, was ich geglaubt hatte zu wissen, war explodiert, war zu Chaos und Verwirrung geworden, durcheinandergewürfelt und in alle Winde zerstreut, mit einem Mal nebulös und unzulänglich und sinnlos.
Ich wußte kaum noch, was ich denken sollte, wo ich auch nur anfangen sollte nachzudenken, damit ich alle Teile wieder zusammenfügen konnte, wenn das überhaupt noch möglich war. Wenigstens hatte ich die Geistesgegenwart besessen, Zhobelia um die Zehnpfundnote und das Soldbuch zu bitten. Ich vermute, ich klammerte mich aus schierer Notwendigkeit an die praktischste Vorgehensweise, die sich mir bot, klammerte mich an die Realität wie eine Muschel an einen vertrauten Felsen, während die Wogen von etwas unvorstellbar Größerem und Mächtigerem über mich hinwegspülten und drohten, meinen Verstand mit sich fortzureißen. Ich konzentrierte mich auf die Erfordernisse des Augenblicks und fand einige Erleichterung und Trost darin zu überlegen, was jetzt zu tun wäre,
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