Die Auserwählte
Wunde und tupften Jod darauf. Aasni suchte nach Stoff, um ihn zu verbinden.
Zhobelia öffnete die Aussteuertruhe, die ihre Großmutter ihr zu ihrem zwanzigsten Geburtstag aus Khalmakistan geschickt hatte, und nahm den Tiegel mit der hochgepriesenen Heilsalbe namens Zhlonjiz heraus, die ausdrücklich für besondere Notfälle gedacht war; Zhobelia machte einen Umschlag und legte ihn auf die Wunde, dann wickelte sie den Verband um den Kopf des Mannes. Der Mann zitterte immer noch. Sie wollten nicht, daß ihre Mäntel mit Schmalz beschmiert wurden, also öffneten sie eine der Teekisten (der Tee war sowieso nicht im allerbesten Zustand, da er von einem Farmer nahe Tarbert, der sich einen saftigen Profit auf dem Schwarzmarkt versprochen hatte, zu lange in einer Scheune aufbewahrt worden war) und kippten die krümeligen Teeblätter über den bibbernden, schmalz-weißen Mann; sie brauchten zwei Kisten, um ihn gänzlich zu bedecken; er war halb bewußtlos und stöhnte noch immer in seinem Kokon aus Tee und Schmalz, aber wenigstens hatte er endlich zu zittern aufgehört, und einen Moment lang öffneten sich seine Augen, und er schaute sich kurz um und in die Augen der beiden Schwestern, bevor er das Bewußtsein wieder verlor.
Sie starteten den Lieferwagen, in der Absicht, den Mann zum nächsten Arzt zu fahren, aber das Gras in der kleinen Senke, in der sie geparkt hatten, war so rutschig vom Regen, daß sie das Fahrzeug kaum einen Meter bewegen konnten. Aasni zog sich den Mantel über und ging hinaus in das Unwetter, um vom nächsten Hof mit einem Telefon aus Hilfe zu holen. Zhobelia blieb zurück, um sich um ihr totenbleiches Findelkind zu kümmern.
Sie vergewisserte sich, daß er noch atmete, daß der Umschlag noch über der Wunde lag und daß die Blutung aufgehört hatte, dann machte sie sich daran, so gut es ging das Wasser aus seinen Kleidern zu wringen. Er murmelte beständig vor sich hin, redete in einer Sprache, die Zhobelia nicht verstand und von der sie vermutete, daß auch niemand sonst sie verstehen würde. Ein paarmal murmelte er jedoch das Wort »Salvador«…
Dieser Mann war natürlich mein Großvater.
*
Gott sprach zu Salvador. Er wartete in einem Thronsaal aus gleißendem Licht am Ende eines dunklen Tunnels, durch den mein Großvater aus der banalen Welt irdischer Existenz zu Ihm aufzusteigen schien. Er nahm an, daß er im Sterben läge und dies sein Weg in den Himmel sei. Gott erklärte ihm, daß dies zwar der Weg in den Himmel sei, daß er aber nicht sterben werde; statt dessen müßte er auf die irdische Welt zurückkehren, mit einer Botschaft Gottes an die Menschheit.
Zyniker mögen sagen, daß es an dem Umschlag lag, an den wirktätigen, exotischen, unbekannten Khalmakistani-Kräutern, die in Salvadors Blutkreislauf eindrangen, seinen Verstand vergifteten und einen Zustand ähnlich den Halluzinationen bei einem »Trip« hervorriefen, aber die Kleinmütigen (und Furchtsamen) werden immer versuchen, alles auf die Trivialität und Weltlichkeit zu reduzieren, denen sich ihr zurückgebliebener, entspiritualisierter Verstand gerade noch gewachsen fühlt. Tatsache ist jedoch, daß unser Gründer als ein anderer und – dafür, daß er beinahe an Unterkühlung, verstärkt durch den hohen Blutverlust, gestorben wäre – als ein besserer, gesünderer Mensch aufwachte; ein Mensch mit einer Mission, mit einer Botschaft; einer Botschaft, die Gott der Menschheit schon seit langer Zeit durch die ständig wachsenden Störgeräusche des modernen Lebens und der modernen Technologie zu übermitteln versucht hatte; einer Botschaft, die nur jemand, dessen angelernte geistige Aktivität durch die Nähe des Todes beinahe zum Stillschweigen gebracht worden war, hatte hören können. Sicher haben andere Männer ebenfalls Botschaften von Gott empfangen, doch sie waren der Schwelle des Todes zu nah gewesen und haben sie überschritten, so daß es ihnen unmöglich gewesen ist, das Signal an ihre Mitmenschen weiterzugeben; man konnte ganz sicher nicht sagen, daß über das vorangegangene Jahrzehnt ein Mangel an Todesfällen geherrscht hätte.
Wie immer es auch gewesen sein mag, als mein Großvater schließlich – an einem windstillen, bedeckten Tag, während ihm die beiden dunkelhäutigen Frauen, die er für Hirngespinste seines Fiebertraums gehalten hatte, warmen Tee einflößten – erwachte, wußte er, daß er Der Auserwählte war; der Erleuchtete, der Aufseher, den Gott mit der Aufgabe betraut hatte, eine Gemeinschaft
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