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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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dessen wuchs sie bei uns auf, in der Gemeinde, wo schlichte Kleidung, kein Make-up, ein praktischer Haarschnitt und allgemeines Desinteresse an Äußerlichkeiten hohler Eitelkeit den Nährboden entziehen, und so hatte sie Zeit zu entdecken, daß Gott sie mit einer weit größeren und weit weniger vergänglichen Gabe als körperlicher Schönheit gesegnet hatte. Morag lernte Geige zu spielen, dann Cello, dann später Viola da Gamba und schließlich Baryton (eine Art Viola da Gamba mit zusätzlichen Resonanzsaiten). Sie spielte all diese Instrumente nicht nur mit gekonnter, perfekter Technik, sondern auch mit einer emotionalen Tiefe und einem intuitiven Verständnis für Musik, wie man sie bei einem so jungen Menschen wohl kaum ein zweites Mal findet. Obgleich Morag sich mit der gebotenen Bescheidenheit ausdrückte, zeigte sich ja in ihren Briefen doch unmißverständlich, daß sie beinahe allein das Interesse am Baryton als Instrument wiedererweckt und durch ihre Auftritte und Aufnahmen vielen Tausenden von Menschen Freude geschenkt hatte. Ich hoffe, wir machen uns nicht der Eitelkeit schuldig, wenn wir so überschwenglich stolz auf sie sind und uns sogar einen bescheidenen Anteil an ihren Erfolgen zusprechen.
    Der Tag wurde klar und sonnig; ich setzte meinen Hut auf, um mich vor der Sonne zu schützen. Ich trieb neben endlosen Reihen riesiger, fensterloser Lagerhäuser dahin und passierte Alloa bei Ebbe, während ich mich vom Paddeln ausruhte, ein Mittagessen aus Slapshot Naan und Ghobi Stovies zu mir nahm und etwas Wasser aus meiner Flasche trank. Über den Nachmittag frischte der Wind von Westen auf und trieb mich schneller den Fluß hinunter, vorbei an einem riesigen Kraftwerk und unter der Kincardine-Brücke hindurch. Ich paddelte mit neuentfachtem Eifer, hielt mich dabei immer dicht an die glitzernde Schlammzone des Südufers; im Norden lag ein weiteres gigantisches Elektrizitätswerk, während sich zu meiner Rechten der Rauch und die Dampfschwaden und die Flammen der Grangemouth-Ölraffinerie im Wind duckten und so den Weg nach Edinburgh wiesen.
    Ich hatte Gertie Possils Haus in Edinburgh als Sechzehnjährige schon einmal besucht, und so war mir jener Teil meiner Reise vertraut und ich wußte, was mich erwartete. Was London betraf, sah die Sache anders aus. Jene Stadt ist für junge Gemeindemitglieder ein ebensolcher Magnet wie für jeden durchschnittlichen schottischen Jugendlichen, und neben meiner Cousine Morag und Bruder Zeb hatte sie noch etliche andere aus der Gemeinde angezogen, darunter für ein Jahr auch meinen Bruder Allan, der ebenfalls musikalische Ambitionen gehegt hatte. Er ging mit zwei Freunden nach London, die er auf der Fachhochschule für Agrarwissenschaft in Cirencester kennengelernt hatte, auf die er geschickt worden war, um Betriebswirtschaft zu studieren. Seither hat er die ganze Angelegenheit immer heruntergespielt, aber ich hatte den Eindruck, daß der fehlgeschlagene Versuch, es in der Großstadt zu etwas zu bringen, eine herbe Enttäuschung für ihn war. Ich weiß, daß er sich während seines Aufenthalts dort einem Rockmusik-Ensemble angeschlossen und anscheinend eine Art tragbarer elektrischer Orgel gespielt hat, jedoch haben sich seine geheimen Träume von Ruhm und Erfolg nicht erfüllt, und so kehrte er nach einer – wie ich vermute – rundum niederschmetternden Erfahrung zurück, unerschütterlich in seinen Bekundungen, daß sein Platz, seine Arbeit und sein Schicksal hier bei uns wären und daß er nie wieder seinen Fuß in jenen gigantischen, menschenverachtenden Pfuhl der Liederlichkeit, jenes Epizentrum von Störgeräuschen und Geißel aller Träume, setzen würde.
    Der Tag schritt voran; ich paddelte durch das aufgewühlte Wasser, ruhte mich aus, wenn meine Arme zu müde wurden, und veränderte so gut es ging meine Sitzhaltung, um die Schmerzen im. Rücken zu lindern, der ganz naß war von den hochspritzenden Wellen. Vor mir, vielleicht zehn Meilen entfernt, konnte ich zwei mächtige Brücken ausmachen, die sich über den Fluß spannten, und ihr Anblick verlieh mir neuerliche Kraft, da ich wußte, daß Edinburgh nicht weit dahinter lag. Ich nahm den Klappspaten in meine mittlerweile wundgescheuerten Hände und paddelte weiter.
    Wann immer ich meine Reise als mühselig und schmerzhaft empfand, rief ich mir ins Gedächtnis, daß dies nichts war im Vergleich zu der folgenreichen Wiedergeburt aus den Wasserfluten, die mein Großvater vor viereinhalb Jahrzehnten durchgemacht

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