Die Auserwählte
schaute noch immer verwirrt drein.
Unser Zug fuhr bis zur Baker Street. Wir kehrten fast bis an die Oberfläche zurück; ich stand etwas abseits, während Zeb sich in die Schlange vor dem Fahrkartenschalter einreihte, da es zu den frustrierenden Eigenschaften des Londoner Untergrundbahn-Systems gehört, daß die Methode des Busspringens hier nicht anwendbar ist.
Ich schaute mich um. Welche Menschenmassen: Mir kam in den Sinn, welche völlige Umkehr der Situation dies gegenüber dem Leben in der Gemeinde darstellte, wo man tage-, wochen- und manchmal monatelang jeden Menschen, dem man begegnete, gut kannte; einen Fremden zu sehen, war ein Erlebnis. Hier war das Gegenteil der Fall; man konnte davon ausgehen, daß jeder, mit dem man zufällig zusammenstieß, ein Fremder war, und der Anblick eines bekannten Gesichts gab gemeinhin Anlaß zu überschwenglicher Freude.
»Entschuldige bitte. Kann ich dir helfen?« fragte ein in einen grauen Mantel gekleideter Mann mittleren Alters mit leiser Stimme. Er faßte sanft meinen Ellenbogen. In seiner anderen Hand hielt er einen schwarzen Aktenkoffer. »Hast du dich verlaufen?« erkundigte er sich.
»Mitnichten«, erklärte ich ihm und sah auf seine Hand. »Ich habe den rechten Weg gefunden. Ich vermute eher, daß Sie noch in der Dunkelheit umherirren, Sir.«
»Wie bitte?« sagte er verwirrt.
»Freund, Sie sehen hier vor sich einen der glücklichsten und gesegnetsten Menschen, die auf dieser traurigen Erde wandeln, denn ich wandle im Angesicht Gottes. Ich habe die freudige Ehre – «
»He«, sagte Zeb und trat entschlossen zwischen uns.
Der Mann murmelte so etwas wie eine Entschuldigung und verschwand mit gesenktem Kopf wieder in der Menge.
»Bruder Zebediah, ich habe gerade Missionsarbeit geleistet«, rügte ich ihn, als wir zu den Untergrundbahn-Tunneln zurückkehrten.
»Scheiße. Verdammter. Perverser. Höchstwahrscheinlich. Mußt. Vorsichtig sein.«
»Zeb, ich bin nicht vollkommen naiv, was die Welt und die Sündhaftigkeit der Großstadt anbelangt«, erklärte ich ihm. »Sehr wahrscheinlich hatte jener Gentleman ein ruchloses und sogar schändlich lüsternes Motiv, mich anzusprechen, aber ich frage dich: Bedarf nicht gerade eine solche Seele der Rettung? Als Mitglied der Wahren Kirche und besonders als Auserwählte habe ich die Pflicht, die fromme Botschaft wo immer und wann immer möglich zu verbreiten. Ich danke dir für deine Fürsorge, aber du darfst nicht annehmen, daß ich übertölpelt werde, wenn ich in Wahrheit predige. Ich bin sehr wohl imstande, um Hilfe zu bitten, sollte ich welche brauchen.«
Zeb schien daraufhin etwas beleidigt, und ich überlegte, daß es vielleicht zum Besten war, daß ich ihn nicht auch noch darauf hingewiesen hatte, daß sein Eingreifen unter derartigen Umständen vielleicht nicht immer so hilfreich war, wie er es sich anscheinend vorstellte, da ich gute zwei Zentimeter größer und auch um einiges kräftiger gebaut war als er. Zebs Schmollen hielt auch während der Zugfahrt an, und selbst mein Versuch ihn aufzuheitern, indem ich vorschlug, wir sollten uns für eine nette Tasse Tee in den Speisewagen begeben, wurde seinerseits nur mit einem Verdrehen der Augen und einem »Herrje!« beantwortet.
Dennoch hoffte ich, mit der bloßen Offenbarung meines Wissens um die Existenz solch zivilisatorischer Eigenheiten wie Speisewagen in Zügen meine Findigkeit und weltmännische Gewandtheit hinlänglich unter Beweis gestellt zu haben.
Das nächste Mal stiegen wir am Bahnhof Green Park um, wo wir die Treppen hinaufstiegen, um Fahrkarten nach Covent Garden zu kaufen.
»Bist du sicher, daß dies die zügigste Art der Fortbewegung ist?« fragte ich meinen Halbbruder, während wir – mit zwei neuen Fahrkarten in der Hand – abermals in den Untergrund hinabstiegen.
»Busse. Langsamer«, erwiderte Zeb.
»Ja, aber es scheint eine große Zeitverschwendung, für jeden Abschnitt der Fahrt von neuem eine Fahrkarte zu erwerben; all dieses zusätzliche Hin und Her vom Bahnsteig zum Fahrkartenschalter und zurück kann nicht nützlich sein.«
»Ja. Verrückt, nicht wahr?« seufzte Zeb.
*
Ein weiteres Umsteigen in Covent Garden und eine damit verbundene kurzzeitige Rückkehr an die Oberfläche, um am Bahnhof Finsbury Park ein weiteres Paar Fahrkarten zu erstehen, brachte uns schließlich nach Finchley; vom Bahnhof war es ein kurzer Marsch bis zu dem Wohnblock an der Nether Street, der die letzte Adresse meiner Cousine Morag gewesen war. Die
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