Die Auserwählten
freundlichen, intelligenten Augen an.
Es ging jetzt nur noch um wenige Minuten. Auf der anderen Seite der Panoramafenster war der Himmel hellrot.
»Wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihr Leben in Gefahr ist.«
Samuel Hviids Miene veränderte sich kein bisschen.
»Ich möchte Sie bitten, das Krankenhaus zu verlassen. Nur für die nächste halbe Stunde.«
»Das Krankenhaus verlassen? Warum das denn?«
»Ich kann Ihnen im Moment keine weiteren Auskünfte geben. Nur, dass es für Sie nicht sicher wäre, sich in den nächsten Minuten hier aufzuhalten.«
Hviid schüttelte kurz den Kopf und sah sich um.
»Ich will mich nicht verstecken. Diese Sache ist fast zwanzig Jahre her.«
Er sah Niels an. War da ein Anflug von Sorge in seinem Blick zu erkennen?
»Nur für eine halbe Stunde. Maximal.«
»Und was dann?«
»Dann haben wir alles wieder unter Kontrolle.«
»Nein, es ist mein Leben, und ich muss lernen, damit zu leben. Das kann ich nicht, wenn ich jedes Mal den Schwanz einziehe. Wann ist er ausgebrochen?«
Niels wusste aus gutem Grund nicht, was er antworten sollte. »Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Nicht sagen? Come on! Ich bin Arzt. Wir begehen Fehler. Der Mann bedroht mich schon die Hälfte meines Lebens wegen einer Sache, für die ich nicht verantwortlich bin. Ich war rein zufällig der Arzt, der zuletzt Kontakt mit seiner Frau hatte, bevor sie auf tragische Weise ums Leben gekommen ist. Die ganze Medikation … das war der Anästhesist. Aber so etwas kommt vor.«
Samuel Hviid sah zu den Mitgliedern der Geschäftsleitung hinüber. Niels konnte es ihm ansehen: Er hatte viel erreicht und wollte nicht, dass ihm jetzt noch jemand in die Parade fuhr. Die Direktoren hinter den dicken Glaswänden wussten nichts davon. Verließ er die Sitzung jetzt, würden sie neugierig werden.
Noch eine SMS von Hannah: ›Vergiss Hviid. Konzentrier Dich auf Gry Libak. Abteilung C. Du hast nur noch wenige Minuten.‹
74.
74.
Cannaregio, Ghetto, Venedig
Schwester Magdalena war in den Orden des Heiligen Herzen eingetreten, weil sie an Gott glaubte. Aus demselben Grund ließ sie sich auch nicht von dem bisschen Wasser auf den Straßen abhalten. Signore Tommaso sollte seine Nachricht bekommen. Das hatte Magdalena einer Sterbenden versprochen. Einer Frau, die aus dem Jenseits eine letzte Botschaft erhalten hatte. Auf so etwas musste man hören, das wusste Magdalena besser als jede andere. Hätte sie nicht darauf gehört, wäre sie jetzt nicht mehr am Leben. Dann wäre sie gemeinsam mit neunzehn anderen in Shaw Station in Manila ums Leben gekommen. Gott aber hatte sie gerettet. Und so trug sie noch heute, nach all den Jahren, die Quittung des Fahrradladens in ihrer Tasche. Für sie war das ein Beweis. Ein konkreter Nachweis für die Existenz Gottes. Vielleicht bewahrte sie diese Quittung für sich selbst auf, sollte sie jemals beginnen, an ihrer Erinnerung zu zweifeln.
Sie klopfte an. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, und der Eingang war überflutet.
»Signore di Barbara? Tommaso? Ich habe eine Nachricht von Ihrer Mutter.«
Kein Laut. Magdalena trat ein und rief noch einmal. Es war nicht ihre Art, sich auf diese Weise Zutritt zu einem fremden Heim zu verschaffen. Aber sie musste. Es war wichtig.
Über die Treppe nach oben. Sie rief immer wieder, bekam aber keine Antwort. Im Wohnzimmer fiel ihr Blick auf die Tafel mit den Bildern von den Mordopfern, die über den ganzen Erdball verteilt waren. Erst verstand sie nicht, was sie dort sah. Dann registrierte sie, dass das Bilder von toten Menschen waren. Ihr Mund wurde trocken, und sie schmeckte auf einmal ihr Blut. Schwester Magdalena hatte das unbestimmte Gefühl, zu spät gekommen zu sein.
75.
75.
Rigshospital, 15.32 Uhr »Poul Spreckelsen, Kardiologie«, sagte Casper und blickte auf. »Vielleicht nicht ganz so spektakulär wie Samuel Hviid mit seiner Malaria-Bekämpfung. Aber Spreckelsen hat etwas entwickelt, das …«
Hannah hörte nicht zu. Sie blickte auf den Fernsehbildschirm auf der anderen Seite der Glasscheibe. Helikopterbilder von zwei Krankenwagen, die vor dem Bella Center hielten. Ärzte und Sanitäter sprangen aus den Wagen. Am unteren Rand des Bildschirms lief der Nachrichtentext: Breaking News. Klimabeauftragter kollabiert .
»Hörst du?«
Hannah hörte nicht. Sie verließ das Büro und ging in den Raum nebenan.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Die Frau warf Hannah einen fragenden Blick zu.
»Ja. Könnten Sie den Ton einschalten?«
Die Frau
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