Die Auserwählten
drinnen in der Wache. Auch das war ein Verstoß gegen die Vorschriften. Ein Beamter für zwei Gefangene. Gefangene . Das Wort klang irgendwie total verkehrt.
Rishøj drehte sich zur Seite, so dass er sowohl Hannah als auch Niels sehen konnte. Er sagte: »Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Ich habe so etwas noch nie gemacht.«
Beide, Niels und Hannah hofften, dass der jeweils andere etwas sagen würde. Ihr Schweigen schien den Beamten aber nicht zu stören.
»Hier passiert ja nicht gerade viel. Ein paar Halbwüchsige, die mal Unsinn machen. Gelegentlich eine Schlägerei in der Kneipe. Ein paarmal waren wir auch mit unten in Vollmose, wenn die jungen Araber ausgerastet sind. Aber wissen Sie was?«
»Nein«, beeilte Hannah sich zu sagen.
»Die sind schon in Ordnung, jedenfalls die meisten von ihnen. Klar, einige sind komplett verrückt, aber den meisten ist einfach nur langweilig. Wir müssten denen nur einen Jugendclub und einen Bolzplatz geben, das würde schon reichen. Aber, ja, das ist jetzt nicht unser Thema.«
Niels sah ihn an. Rishøj lächelte. Er wirkte wie ein Mann, der schon lange jeden Kontakt zu seiner Umwelt verloren hatte. Ein verwirrter, etwas zerstreuter Polizist, der seine Uniform ablegen und endlich begreifen sollte, dass er seine Kämpfe fortan auf dem Gelände seines Sommerhäuschens ausfechten musste, wo seine Gegner nicht junge Araber waren, sondern Knöterich, Melde und anderes Unkraut.
Das Schneegestöber wurde immer dichter. Die Flocken stoben fast waagerecht über die Äcker und ließen den Verkehr nur langsam vorwärtskommen. Rishøj schien sich nicht daran zu stören, dass Niels und Hannah schwiegen, er redete. Über seine Tochter, die Friseuse geworden war. Hannah nickte noch hin und wieder, doch Niels hörte gar nicht mehr zu. Er fragte sich, was geschehen würde, wenn sie in Kopenhagen waren. Sommersteds Wut konnte er sich lebhaft vorstellen, ebenso Leons Verachtung. Doch am meisten Kopfzerbrechen bereitete ihm die wohl unausweichliche Untersuchung in der Psychiatrie des Rigshospitals. Am liebsten hätte er Ich will nicht sterben! gebrüllt. Aber irgendwie war es, als würde ihn etwas – etwas – davon abhalten.
»Einer von Ihren Kollegen wartet auf der anderen Seite der Brücke«, erklärte Rishøj. »Der fährt Sie dann die restliche Strecke.«
Hannah drehte sich zu Niels um. »Siehst du es jetzt, Niels? Was du auch tust. Jetzt sind wir auf dem Weg zurück.«
»Genau wie du es gesagt hast.«
»Versteh doch, Niels, das ist etwas Größeres. Etwas, das wir nicht kennen. Du spürst es jetzt doch auch.«
»Willst du mich etwa trösten?«
»Ja.«
»Okay.«
Rishøj sah sie fragend an.
Niels hätte sich am liebsten wie ein Säugling zusammengekrümmt. In weniger als zwei Stunden würde er wieder in Kopenhagen sein. Sie sahen bereits die Bremslichter der Autos, die sich vor der Brücke stauten. »Ich darf nicht über diese Brücke!«, ermahnte er sich. »Bin ich erst drüben, ist es zu spät.«
Der Stau vor der Brücke war lang.
»Was ist denn hier los?«, sagte Rishøj laut zu sich selbst.
»Vielleicht ist sie wegen des Wetters gesperrt?«, schlug Hannah vor.
Der Beamte nickte. Seine Finger trommelten ungeduldig auf das Lenkrad. »Dann gönn ich mir eine Pfeife«, murmelte er und öffnete die Tür. »Sonst noch wer?« Er wandte sich um.
Niels nickte.
Hannah hatte Recht: Die Brücke war wegen der schlechten Sicht vorübergehend für den Verkehr gesperrt worden. Niels erwiderte ihren Blick, als sie ausstiegen.
»Ich rufe Ihren Kollegen auf der anderen Seite an. Nur damit er nicht glaubt, wir hätten ihn vergessen.« Rishøj trat ein paar Schritte zur Seite und rief an.
»Bist du bereit?«, flüsterte Niels Hannah zu.
»Was hast du vor?«
»Ich darf nicht über diese Brücke.«
»Niels, egal was …« Hannah konnte nicht weiterreden, denn Rishøj kam wieder zurück.
»Die sagen, der Wind legt sich gleich wieder.« Er holte seine Pfeife heraus und wollte sie anzünden. Aber das Feuerzeug streikte. Niels reagierte schnell. »Ich habe ein Feuerzeug in meinem Koffer, der ist hinten im Auto.«
Rishøj nickte und holte seine Schlüssel hervor. Der Kofferraum öffnete sich mit einem leisen Klicken. Niels zog den Reißverschluss seines Koffers auf.
»Da hinten kommt noch mehr Schnee«, behauptete Hannah und verleitete den alten Polizisten zu einem verzweifelten Blick in Richtung Norden. Als er sich wieder umdrehte, blickte er direkt in den Lauf von Niels’ Heckler & Koch. Er
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