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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Kazinski
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stürzte und die nächste Polizeiwache anrief. Er schlug sich diesen Gedanken aus dem Kopf und ging zu Hannah.
    »Sind wir so weit gekommen?« Sie klang müde.
    »Konntest du schlafen?« Er reichte ihr den Plastikbecher.
    »Ein bisschen.« Sie war verspannt im Nacken und versuchte, mit einer Kopfbewegung die Verspannung ein wenig zu lösen.
    »Ist es dir zu kalt hier?«
    »Nein, ist schon in Ordnung.«
    Sie blickten über das Wasser. Nicht mehr lange, und der Nebel über dem Wasser würde zu kleinen Eiskristallen erstarren, und die Bucht würde zufrieren. Niels schaltete sein Handy ein. Keine Nachrichten.
    »Ich hatte einen Kollegen im Institut.« Während Hannah sprach, beobachtete sie zwei Fischer, die sich für die Ausfahrt bereitmachten. Einer von ihnen winkte. Hannah winkte zurück. »Der konnte nie ›Nein‹ sagen. Es war fast so, als gäbe es dieses Wort für ihn gar nicht. Wenn er von jemandem um etwas gebeten wurde, sagte er immer ›Ja‹.«
    Sie machte eine längere Pause. »Das wurde zu einem echten Problem für ihn. Es war einfach zu viel, er konnte nicht alles bewältigen, was er zugesagt hatte. All die Ausschüsse, Sitzungen, Konferenzen, Vorträge. Und schließlich …« Sie hielt inne und sah ihn an. »Und schließlich kehrte sich die Stimmung gegen ihn.«
    »Worauf willst du hinaus?«
    »Güte als Problem, Niels. Darauf will ich hinaus. Seine Güte wurde zu einem Problem für das ganze Institut. Wir begannen schließlich, Sitzungen ohne ihn abzuhalten, ganz einfach, um ihn zu schonen. Damit er niemanden enttäuschen musste, weder sich noch uns. Verstehst du?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Was ist Güte, Niels?«
    Niels schüttelte den Kopf und starrte auf den Kies vor seinen Füßen.
    »Die Philosophin Hannah Arendt spricht von der Banalität des Bösen. The banality of evil. Sie ist der Ansicht, dass die meisten Menschen eine latente Bosheit in sich tragen. Es braucht nur die richtigen – oder besser: die falschen – Rahmenbedingungen, um sie auszulösen. Aber was ist dann mit der Güte? Der Banalität der Güte? Wenn ich an meinen Kollegen und an dich denke, dann frage ich mich fast, ob ihr überhaupt einen freien Willen habt. Ihr habt doch keine Wahl. Ihr seid gut. Die Frage ist nur, ob die Güte dann wirklich noch so gut ist?«
    »Hannah.«
    »Nein, warte. Das ist wichtig. Du hast diese Entscheidung ja nicht selbst gefällt. In unserem Verständnis von ›Güte‹ und ›der guten Handlung‹ denken wir existenziell betrachtet, dass wir die Wahl haben. Aber du hast diese Wahl gar nicht. Denk an die Geschichte mit Hiob! Du bist ein Steinchen, eine Spielfigur in einem Spiel, bei dem andere … oder genauer gesagt: etwas anderes die Spielregeln festgelegt hat. Das Paradoxe an Hiobs Geschichte ist ja gerade, dass Gott an niemanden so sehr denkt, wie an ihn – und ihm dennoch alles nimmt. So ist das auch mit euch. Mit dir, Niels. Auch dir hat man den freien Willen genommen – die Möglichkeit, fortzugehen.«
    »Jetzt hör aber auf!«
    »Man sagt, dass die meisten, die heutzutage im Gefängnis sitzen, an ADHS leiden. Eine Art Autismus. Neuropsychologische Störungen, die wir erst ansatzweise verstehen. Was wäre, wenn wir viel weniger Herr im eigenen Haus sind, als wir es uns einbilden? Wenn die meisten unserer Entscheidungen biologisch bedingt wären?«
    »Hannah!« Niels unterbrach sie und sah sich um.
    »Ja.«
    »Es ist ziemlich schwer, das alles zu verdrängen, wenn du ständig darüber redest.«
    Sie lächelte.
    »Wir machen Ferien, okay?«
    »Okay.« Sie lächelte.
    »Lass uns weiterfahren.«
    Sie gingen zurück zum Auto und stiegen ein. Einen Moment lang saßen sie da und genossen es, den eisigen Wind ausgesperrt zu haben. Niels wollte gerade den Motor anlassen, als Hannah sagte: »Wer ist das?« Sie sah an ihm vorbei.
    »Wer?«
    »Hinter dir. Die kommen hierher.«
    Er drehte sich um. Zwei Polizisten. Einer der beiden beugte sich vor und klopfte laut an die Scheibe.

4.
    4.
    Nyborg
    Der Ort hatte wirklich Potenzial; Niels war sich dessen nicht gleich bewusst geworden, doch jetzt war ihm das völlig klar.
    Die Zelle erinnerte an ein Clubzimmer, war allerdings ein wenig größer. Von Alcatraz keine Spur. Keine kreischenden Gittertüren, keine klirrenden Schlüsselbunde und auch kein militärisches Stiefelgetrampel von sadistischen Wärtern. Auch psychopathische Mithäftlinge mit Tätowierungen im Gesicht, die wegen vierfachen Raubmordes einsaßen und nur darauf warteten, sich auf ihn zu

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