Die Auserwählten
Panik gerieten. Ein solches Verhalten war in der menschlichen Natur tief verankert. Hatte man eine Untat begangen, wollte man weg, sofort. Weit weg.
Der Bus hielt an einem Busbahnhof, und der Fahrer verließ seinen Wagen gemeinsam mit den Fahrgästen.
Hannah und Niels betraten den kleinen, nach Urin riechenden Warteraum. Der Kaffeeautomat funktionierte nicht.
»Der Bahnhof ist da vorne«, sagte Niels und streckte den Arm aus. »Lass uns Fahrkarten kaufen. Aber wohin?«
Sie berührte seine Oberlippe. »Du hast geblutet.«
Niels nickte. Ihm war schwindelig, der Polizist hatte fest zugeschlagen.
»Eigentlich musst du ja nicht …« Er kam ins Stocken.
»Was? Zusammen mit dir fliehen?«
»Ja. Hinter dir ist ja niemand her.«
»Nicht niemand, Niels«, sagte sie lächelnd. »Etwas. Wenn das jemand wäre, würde ich nicht hier sitzen. Aber dieses ›Etwas‹ ist verdammt interessant, deshalb bin ich hier.«
»So interessant, dass du dafür ins Gefängnis gehen würdest, wenn es so weit kommen sollte?«
»Ich sage einfach, dass du mich gekidnappt hast.«
***
Der Zug hielt fast bei jeder Milchkanne, aber das machte nichts. Hannah und Niels saßen sich gegenüber, und es war ein gutes Gefühl, so zu sitzen. Niels warf immer wieder verstohlene Blicke zu ihr hinüber, doch sie ertappte ihn dabei, was ihm peinlich war, so dass er schließlich aus dem Fenster schaute und sich auf die Landschaft zu konzentrieren versuchte. Als sie in eine Unterführung fuhren, fing er Hannahs Spiegelbild in der Scheibe ein. Sie musterte ihn, und die Art, wie sie ihn ansah, gefiel ihm.
»Sieh mich an.«
Er gehorchte, und plötzlich schien die Unterführung nicht enden zu wollen. Kurz bevor sie wieder ins Tageslicht fuhren, musste Niels an Kathrine denken, und sein Gewissen meldete sich. Er versuchte sich vorzustellen, dass nicht Hannah, sondern Kathrine vor ihm saß, doch es gelang ihm nicht.
Es war schließlich eine Kindheitserinnerung, die ihn aus der beklommenen Situation rettete. Niels redete und redete, als würde Hannah ihn überfallen und ihm die Kleider vom Leib reißen, sollte er mit dem Erzählen aufhören. »Ich war sechs Jahre alt. Wir waren damals mit dem Bus unterwegs zur Costa Brava. Meine Mutter und ich. Schon vor Flensburg ging alles schief. Es war spätabends. Die anderen Reisenden schliefen. Ich bin aufgewacht, weil mir so übel war und ich irgendwie das Gefühl hatte zu ersticken. Meine Mutter machte sich Sorgen und bat den Fahrer anzuhalten. Die anderen Fahrgäste reagierten zuerst unwillig. Sie waren auf dem Weg in den Urlaub und wollten sich nicht durch ein reisekrankes Kind aufhalten lassen. Doch als sie den Jungen sahen – also mich –, wie ich von Spasmen geschüttelt und nach Atem ringend im Mittelgang des Busses lag, willigten sie ein.«
Niels sah Hannah an, bevor er fortfuhr: »Es wurde ein Krankenwagen gerufen, aber das Ganze war total verrückt, denn der Krankenwagen durfte nicht nach Deutschland einreisen, so dass der Bus zurück über die Grenze fahren musste. Als man mich in den Rettungswagen trug, hatte ich, glaube ich, bereits das Bewusstsein verloren, ich kann mich jedenfalls an nichts erinnern. Erst Stunden später bin ich wieder aufgewacht – da war ich schon im Krankenhaus von Aabenraa –, und da ging es mir wieder gut.«
»Du kannst deine Umgebung nicht verlassen. Das ist wirklich fantastisch.«
Er blickte zu Boden.
»Entschuldigung, nicht fantastisch, ich meinte faszinierend. Ein echtes Phänomen.«
»Kann schon sein.« Niels wusste nicht, was er davon halten sollte, ein faszinierendes Phänomen zu sein.
»Und was wurde aus eurem Urlaub?«, fragte Hannah schließlich, als ihr der menschliche Aspekt des Ganzen bewusst wurde.
Niels zuckte mit den Schultern. »Wir waren eine Woche im Sommerhäuschen und haben die Zeit damit verbracht, im Fjord Krebse zu fangen. Das war der reinste Massenmord.« Die Erinnerung ließ ihn lächeln.
»Seit damals ist es ein bisschen besser geworden«, fuhr er fort. »Vielleicht liegt das am Alter, inzwischen schaffe ich es so einigermaßen bis nach Berlin. Aber gut geht’s mir dabei nicht.«
In Odense stiegen sie um und fuhren weiter in Richtung Esbjerg. Niels nahm neben Hannah Platz, nicht ihr gegenüber, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung.
»Stell dir mal einen sehr, sehr langen Zug ohne Abteile vor«, sagte sie plötzlich. »Also nur einen langen Raum, in dem du in der Mitte stehen und in beide Richtungen schauen kannst.«
»Also stehe ich im
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