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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Kazinski
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Zug?«
    »Nein, du stehst auf dem Bahnsteig. Ich bin im Zug.«
    Sie stand auf. Die anderen Passagiere starrten sie an, aber ihr war das egal.
    »Stell dir vor, dass ich in jeder Hand eine Taschenlampe halte.«
    Hannah stand im Mittelgang und hielt zwei imaginäre Taschenlampen in den Händen. »Hast du’s? Die Lampen leuchten in entgegengesetzte Richtungen. Die eine zeigt zur Spitze des Zuges, die andere zum Ende. Und der Zug ist lang.«
    Die anderen Fahrgäste hatten inzwischen jeglichen Versuch aufgegeben, ihr Interesse zu vertuschen. Sie hatten ihre Zeitungen und Laptops zur Seite gelegt und ihre Blicke auf Hannah gerichtet. Das Interesse der Menschen schien sie aber nicht zu stören, im Gegenteil wendete sie sich nun an alle im Waggon: »Sie stehen auf dem Bahnsteig. Der Zug fährt schnell. Und er ist sehr lang. – Okay?«
    »Ja.«
    »Also, der Zug rauscht vorbei, und in dem Augenblick, in dem ich an Ihnen vorbeifahre, schalte ich die Taschenlampen an. Exakt gleichzeitig.«
    Sie wartete einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Welcher Lichtkegel trifft zuerst ein?«
    Sie dachten nach. Niels wollte gerade antworten, als ihm ein junger Mann an der Tür zuvorkam: »Der zum Ende des Zuges gerichtete.«
    »Genau. Und warum?«
    »Weil der Zug ihm entgegenkommt. Während die Spitze des Zuges vom Licht wegfährt«, antwortete er.
    »Richtig!«
    Hannah war jetzt in ihrem Element: Sie unterrichtete, vermittelte Theorien und Gedanken, ihr Wissen.
    »Jetzt müssen Sie sich vorstellen, dass Sie hier im Zug sind und die Taschenlampe halten. Der Zug rast weiter, und Sie schalten exakt zeitgleich die Lampen ein. Welches Licht kommt zuerst an? Das zum Ende des Zuges gerichtete oder das in Fahrtrichtung?«
    Ein paar Sekunden der Stille folgten. Jetzt war es Niels, der antwortete: »Sie kommen zeitgleich an.«
    »Genau. Sie kommen zeitgleich an.«
    »Eine optische Täuschung?«, fragte eine Stimme hinter Niels.
    »Nein. Keine Täuschung. Beide Resultate sind gleichermaßen korrekt. Es hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Es ist also … relativ.« Sie lächelte.
    Die Relativitätstheorie wurde zu ihrer Brücke nach Jütland. Hannah wollte Niels damit klarmachen, dass wir immer wieder vergessen, wie wenig wir eigentlich wissen und verstehen können, denn obgleich diese vor hundert Jahren von Einstein entwickelte Theorie unser Weltbild auf den Kopf gestellt hat, haben nur sehr wenige sie wirklich begriffen. Niels spürte genau, dass Hannah jetzt nicht mehr zu bremsen war. Sie schien es sich zum Ziel gesetzt zu haben, Niels die Begrenztheit des menschlichen Wissens deutlich zu machen.
    Auf diese Weise vergaßen sie die Zeit, und als sie das nächste Mal aus dem Fenster schauten, waren die Staketenzäune hoch und weiß – im besten Jütländer Wildweststil.
    Es war unmöglich, vorherzusagen, wann sie gefunden werden würden, aber Niels hoffte, dass es Tage, ja vielleicht sogar Wochen dauern würde. Die Fahndung nach ihm hatte sicher keine Priorität, und die Zeit war auf ihrer Seite. Bestimmt waren längst andere Fälle aktuell, wichtigere Ermittlungen, so dass die Suche nach ihm immer stärker vernachlässigt wurde. Aber trotzdem war es nur eine Frage der Zeit, bis sie gefunden werden würden.

6.
    6.
    Jütland
    Mütter und Väter hatten sich auf dem Bahnsteig versammelt, um ihre erwachsenen Kinder in Empfang zu nehmen, die zum Weihnachtsfest zu Besuch kamen. Trotzdem fragte Niels sich, ob sie beobachtet wurden, und als er vom Bahnsteig nach unten ging, spürte er, wie seine Paranoia zunahm. Zwischen Odense und Esbjerg konnten sie schließlich Hunderte Male gesehen worden sein.
    Niels bemerkte den Mann, bevor dieser Niels erblickte. Mit starrem Blick und einem Zettel in der Hand musterte er die Ankommenden. Niels zog Hannah hinter sich her in die Bahnhofstoilette.
    »Was ist los?«, fragte sie.
    Er antwortete nicht und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Wie hatten sie ihn so schnell finden können? Genau wie unten am Hafen – das ging doch alles viel zu schnell. Jemand musste sie informiert haben. Hatte Hannah die Polizei angerufen? Niels musterte sie und dachte nach. Im Hafen in Kerteminde war er in den Kiosk gegangen – da hätte sie anrufen können. Und im Zug war sie auf der Toilette gewesen.
    »Warum siehst du mich so an?«
    Niels blickte zu Boden.
    »Da draußen steht ein Mann. Das ist ein Beamter in Zivil. Der hält nach uns Ausschau.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »So etwas kann man sehen.«
    Niels dachte

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