Die Auserwählten
erste bezog sich also nur auf den Januar, die zweite auf den Februar, die dritte auf den März. Er stellte das Buch zurück und nahm das nächste heraus. April, Mai, Juni 1943. Es gab zwei Patienten mit Namen ›Worning‹, Julia und Frank. Kein Thorkild. Neues Buch. Ein paar Seiten waren lose. Juli, August, September. Keiner im Juli. Keiner im August. Erst in der Archivliste für Dezember 1943 fand er ganz unten auf der Seite ›Thorkild Worning‹. Niels durchsuchte die Schublade nach einem Kugelschreiber, fand schließlich einen und schrieb sich die Archivnummer auf das Pflaster auf seinem Handrücken. »Abteilung H, Kartothek Nr. 6458«. Dann ging er zurück in den Gang.
Was war der nächste Schritt? Erst jetzt bemerkte er die kleinen handschriftlichen Zettel, die an der Stirnseite von jedem Regal hingen. Buchstaben. A, B, C, D, E, F, G, H. Niels starrte auf das Regal vor sich. Es stand so dicht bei den anderen, dass man sich unmöglich dazwischen schieben konnte. Wie…? Nach einigem Suchen entdeckte er einen Hebel, der aus dem Regal herausragte. Er zog daran, und das ganze Regal glitt zur Seite, so dass Niels in den schmalen Gang treten konnte, der sich aufgetan hatte. Kassetten mit kleinen Karteikarten, wiederum sortiert nach Jahreszahlen. Und wieder gab es mehrere Kassetten pro Jahrgang. 1940, 1941, 1942, 1943. Niels zog eine der Kassetten des Jahres 1943 heraus. Januar, Februar, März. Eine weitere Kassette. September, Oktober, November. Schließlich fand er die richtige: Dezember. Er ließ die Finger über die gelben Karteikarten gleiten. Rosenhøj. Roslund, Sørensen, Taft, Torning, Ulriksen. Da! Thorkild Worning. Niels nahm die Karte heraus. »Thorkild Worning, eingewiesen 17. Dezember 1943. Dermatologie. Aktennummer 49.452«. Niels sah nur die Nummer. 49.452. Dann steckte er die Karte in die Tasche und ging zurück in Richtung Hauptgang. In den Regalen auf der anderen Seite befanden sie die Krankenakten. 26.000-32.000. Er ging weiter. 35.000-39.000 und dachte an Zigaretten. 48.000-51.000. Er blieb stehen. Hier musste es sein. Er packte den Handgriff und schob die Regale auseinander.
Niels setzte sich und atmete tief durch. Sein Körper war gespannt wie eine Feder, und in seinem Mund hatte er einen unangenehmen, metallischen Geschmack. Schnell warf er noch einen Blick auf die Karteikarte in seiner Hand. Eigentlich unnötig, denn die Nummer von Thorkild Wornings Krankenakte kannte er längst auswendig: 49.452. Niels fand schnell die Reihe, in der er suchen musste. Die Akten umfassten Beschreibungen des Krankheitsverlaufs und der Behandlung der jeweiligen Patienten. Manchmal war es nur eine halbe Seite, dann wieder ein detaillierter Bericht. 49.452. »Thorkild Worning« stand zuoberst. Aufgenommen am 17. Dezember 1943. Zwei Bilder waren in der Akte, beide schwarz-weiß.
Das eine war das Foto, das er aus dem Buch kannte. Das Foto von Thorkild Wornings Rücken. Das gleiche Mal wie bei all den anderen Toten. Nur eine andere Zahl. Sechsunddreißig. Wie auf Niels’ Rücken. Das andere Foto zeigte das Gesicht des Patienten. Auf den ersten Blick wirkte es durchschnittlich, gewöhnlich. Thorkild Worning sah aus wie ein Mann, der einem hinter dem Tresen einer jeden Bank hätte begegnen können, die man 1943 betreten konnte. Dunkle Haare, ein perfekter Seitenscheitel, Pomade. Nicht ein Haar lag verkehrt. Ein schmales, harmonisches Gesicht. Runde Stahlbrille. Nur seine Augen passten nicht zu dem Allerweltsgesicht. Sein Blick hatte etwas Manisches, etwas beinahe Dämonisches. Der sachlich konstatierende Text unter dem Bild war enttäuschend kurz:
Einweisung 17. 12. 1943
Befund: Patient war vorgängig zur Untersuchung bei anderem Arzt. Klagt über Schmerzen im Rücken. Kühle Umschläge zur Linderung, die Wirkung bleibt aus. Markante Hautschwellung am Rücken. Patient wirkt abweisend und wirklichkeitsfern. Patient sagt, dass die Schwellung von allein entstanden ist. Die Schmerzen nehmen zu. Patient beschreibt Schmerzen als »brennendes, ätzendes Gefühl«. Und später als ein »Gefühl, als würde die Haut von innen her verbrennen«. Er erklärte, dass die Schmerzen nicht nur in der Haut, sondern im ganzen Rücken zu spüren sind, »im Blut«, wie der Patient immer wieder sagt. Patient wird mit Acetylsalicylsäure behandelt, ohne die gewünschte Wirkung. Patient wirkt im höchsten Grad unausgeglichen und verhöhnt die Ärzte. Eine Untersuchung des Rückens deutet auf ein Ekzem hin, eine Verätzung und eine bis
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