Die Auserwählten
sehen«, flüsterte Kathrine in Kapstadt.
9.
9.
Der Luftraum über Europa
Wieder die Stewardess. Jetzt ging sie durch den schmalen Gang und servierte Kaffee, Tee, Saft und Erdnüsse. Abdul Hadi musste lächeln. Nüsse, Kaffee und Tee. Das waren die wichtigsten Handelsgüter auf dem arabischen Markt. Dafür waren die Kaufleute aus dem kühlen Norden Europas jahrhundertelang nach Arabien gepilgert. Jetzt wurden die arabischen Köstlichkeiten in kleinen Plastiktüten, auf denen blonde, junge Menschen abgebildet waren, an die Passagiere verteilt. Hinter der aggressiven, westlichen Vermarktung ihrer Produkte gab es ein Motiv, das kein Amerikaner oder Europäer durchschaute: Der Westen verkaufte in erster Linie die Idee von sich selbst. Die Reklame diente einzig dazu, den Westen an die Leute im Westen zu verkaufen.
»Coffee or tea?«
Abdul Hadi blickte auf. Sie war es. Wieder dieses Lächeln und der bewusste Augenkontakt. Trotz der stundenlangen Wartezeit auf dem Flughafen war sie wie aus dem Ei gepellt und wirkte erholt.
»Orange juice.«
»Peanuts?«
»Please.«
Sie streifte seine Hand, als sie den Saft auf das kleine Tischchen stellte. Wärme durchströmte ihn. Es war lange her, dass er so gefühlt hatte. Die Stewardess legte zuerst ein Päckchen Erdnüsse auf den Tisch, doch bevor sie weiterging, gab sie ihm noch eins. Nicht hastig, sondern ruhig und fast liebevoll, während sie hinzufügte: »Enjoy your flight, Sir.«
Abdul Hadi sah sich in der Kabine um. Außer ihm hatte niemand zwei Packungen bekommen. Hatte das etwas zu bedeuten? Er sah ihr nach. Ein Fehler, denn im gleichen Moment drehte sie sich um und erwiderte seinen Blick. Er spürte die Wärme. Das Blut, das aus dem Kopf nach unten strömte, um etwas anderes zu füllen. Er stellte sich die Stewardess mit ihm in einem Hotel vor. Wie sie sich auf den Rand des Bettes setzen würde und er ihr Haar löste. Blonde Haare hatte er noch nie berührt; nicht einmal bei Caroline, so weit war es nicht gekommen. Wie mochte sich das Haar anfühlen? Ob es weicher war? Er würde seine Hand zärtlich durch ihr Haar gleiten lassen, während sie seine Hose öffnete. In seiner Fantasie blieb er stehen, während sie auf dem Bett saß und ihre Hand behutsam um sein Glied legte. Sie trug Nagellack. Ein mattes Rot. War das nur in seinen Gedanken so, oder trug sie wirklich Nagellack? Er drehte sich um und versuchte, sie zu erblicken. Aber sie war in dem schmalen Gang schon zu weit entfernt. Er versuchte, an etwas anderes zu denken. An den Westen und sein verlogenes Selbstverständnis. Ging es nach ihnen, hatten das Schießpulver plötzlich nicht mehr die Chinesen erfunden, sondern die Amerikaner, um ihren 4. Juli zu feiern. Dann hatte das Zahlensystem seinen Ursprung nicht mehr in Arabien, sondern in Europa. Wer war sich im Westen schon darüber bewusst, dass die Wiege der Weltkultur auf der Arabischen Halbinsel lag? Die Geschichtsschreibung, die Mathematik, die Wissenschaft … all das, worauf die Grundpfeiler des Westens basierten und was dort so gern für sich in Anspruch genommen wurde. Das alles kommt von uns, ermahnte Abdul Hadi sich selbst. Von uns .
Er aß die zwei Päckchen Erdnüsse, und sein Magen begann zu rumoren. Es war lange her, dass er etwas Anständiges gegessen hatte. Nach der Landung musste er etwas zu sich nehmen, das versprach er sich selbst. Vermutlich fiel es seinem Hirn deshalb so schwer, sich zu konzentrieren. Aber jetzt ging es besser, und er dachte wieder klar und ohne Fantasien von der Stewardess: Zuerst habt ihr alles gestohlen, euch alles unter den Nagel gerissen, und dann dem Rest der Welt den Zutritt verwehrt. Genau so war es. Der Westen basierte auf Diebstahl und Unterdrückung. Aber irgendwann schlagen die Menschen zurück. Das ist nur gerecht.
Das ewige Problem mit den Unschuldigen. Ginge ich jetzt ins Cockpit und steuerte das Flugzeug ins Meer oder in irgendein Gebäude, würden alle vom Terror gegen Unschuldige sprechen, dachte Abdul Hadi. Aber das Argument hielt nicht stand. Es ist euer Steuerbescheid, euer Geld, das die Unterdrückung meiner Brüder finanziert. Ist man unschuldig, nur weil man sich damit begnügt, den Unterdrückern Geld zu zahlen? Ihr versteckt euch hinter euren Kindern. Solange ihr euch hinter ihnen versteckt, habt ihr sie selbst in die Schusslinie geschoben.
Er trank das kleine Glas Orangensaft in einem Zug und dachte an seine Schwester. Sie wäre jetzt etwa so alt wie die hübsche, blonde Stewardess, wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher