Die Auserwählten
Aussicht auf Kopenhagen. Damals roch es noch im ganzen Viertel, wenn sie brauten, doch dann war die Bierproduktion verlagert worden. Niels hatte keine Ahnung, wohin. Vielleicht nach Asien, wie so vieles andere. Aber er war froh, dass ihm der Brauereigestank nicht mehr jeden Morgen in die Nase stieg. Das hatte immer wie der Atem eines alten Säufers gerochen.
Niels sah sich um: Zwei Designersofas Kopf an Kopf, der solide, quadratische Clubtisch. Die Vertiefung in dem rötlichen Granit des Tisches, die es einem erlaubte, ein kleines Feuer zu machen. Mit Bioethanol. Absolut geruchsfrei sollte es vollständig verdampfen, hatte Kathrine ihm erklärt, aber Niels war skeptisch geblieben. Es sah trotzdem schön aus, wenn auf dem Tisch ein kleines Feuer brannte.
Aus dem Präsidium hatte er noch nie jemanden eingeladen. Dabei mangelte es nicht an Aufforderungen von Kathrine: »Lad doch mal ein paar Kollegen zu uns nach Hause ein«, sagte sie immer wieder. Aber Niels konnte das ebenso wenig, wie er Kathrine über seine Gründe aufklären konnte: Er schämte sich. Nicht darüber, dass es Kathrines Geld war, mit dem sie sich die Aussicht in dem Bierturm erkauft hatten – an diesen Gedanken hatte er sich längst gewöhnt –, sondern weil seine Kollegen sich ein derartiges Dreihundertsechzig-Grad-Panorama niemals würden leisten können. Wenn man abends in der Badewanne lag und nur ein paar Kerzen anzündete, leuchteten die kleinen weißen Flecken in dem italienischen Marmor mit den Lichtern der Stadt und dem Sternenhimmel um die Wette.
***
Er schaltete den Computer ein. Ob Kathrine wohl wach war? Wie spät war es jetzt in Kapstadt? Eine Stunde Zeitverschiebung … drei Uhr nachts. Auf der Liste seiner Online-Freunde war Kathrine als eingeloggt verzeichnet, aber sie schaltete ihr MacBook ja so gut wie nie aus. Das musste also nicht heißen, dass sie wach war.
»Wohin gehen wir heute Abend?«, fragte Niels sich, als er die Liste überflog. Amanda aus Buenos Aires war eingeloggt. Ronaldo aus Mexiko. In Europa war Nacht, so dass kaum ein Europäer dabei war. Nur Louis aus Malaga. Aber der war wirklich fast immer online; man musste sich fragen, ob er überhaupt noch ein Leben jenseits der Computertastatur führte. Niels spürte, dass er stabiler geworden war, weniger verschroben, seit er dieses Netzwerk gefunden hatte. Eine globale Kommunität von Menschen, die nicht reisen konnten. Menschen, die größtenteils ihr eigenes Land nie verlassen hatten. Diese Phobie schien es in den unterschiedlichsten Spielarten zu geben: Niels hatte auch schon mit Leuten gechattet, die es nicht einmal schafften, ihre Stadt zu verlassen. In diesem Umfeld hatte Niels sich plötzlich ganz normal gefühlt. Schließlich war er schon in Hamburg und Malmø gewesen. Und auf seiner Hochzeitsreise in Lübeck. Sein körperliches Unwohlsein machte ihm erst ab der Höhe von Berlin richtig zu schaffen. Kathrine hatte ihn ein einziges Mal genötigt, mit ihr dorthin zu fahren, aber er war krank geworden und hatte das ganze Wochenende nur schlotternd im Bett gelegen.
»Das geht vorbei, das geht vorbei«, hatte sie wie ein Mantra wieder und wieder gesagt, als sie Unter den Linden entlangspazierten. Aber es war nicht vorbeigegangen.
Niemand verstand das. Niemand. Sah man einmal von den wenigen Hundert Menschen in diesem Netzwerk ab. Vielleicht taten einige aber auch nur so, als würden sie es nicht verstehen, denn im Grunde war diese Phobie nicht ungewöhnlich. »Air and travel phobia«. Niels hatte eine Menge darüber gelesen. Einige Studien postulierten gar, dass beinahe jeder Zehnte auf unserer Erde an einer Form dieser Phobie litt. Er hatte Kathrine zu erklären versucht, dass sein System kollabierte, wenn er sich ein paar Hundert Kilometer von seinem angestammten Ort entfernte. Zuerst setzte die Verdauung aus. Dann konnte er nicht mehr aufs Klo, weshalb er nie länger als ein Wochenende fort sein konnte. Nach den Problemen im Darm setzten die Schwierigkeiten mit der Atmung ein. Und auf der Höhe von Berlin begannen die Muskeln Widerstand zu leisten. All diese Details besprachen sie in ihrem Netzwerk. Niels wusste, dass seine Depressionen damit in Zusammenhang standen. Dass es ihn immer wieder in die Knie zwang, nicht reisen zu können. Manchmal lag das wie eine tonnenschwere Last auf seinem Brustkorb. Bis wieder die Energieschübe kamen und er das Positive am Leben sah. Seine Kollegen hielten ihn deshalb für manisch.
»Hi, Niels!!! How are things in
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