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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Kazinski
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noch am Leben wäre. Viele Jahre lang hatte er nicht mehr daran gedacht, wie sie getötet worden war, doch in der letzten Zeit war die Erinnerung zurückgekommen. Als wollte diese Erinnerung ihm beistehen. Ihm helfen, um die innersten Mechanismen der Rache und die ultimative Gerechtigkeit zu verstehen. Abdul Hadi schloss die Lider, und vor seinen Augen spielte sich die prägendste aller Erinnerungen ab: Er saß gemeinsam mit seinen Geschwistern auf der Rückbank des Wagens, als der Junge angefahren wurde. Er hatte weder etwas gehört noch etwas gesehen. Der Weg durch die Wüste war derart uneben, dass der Wagen immer wieder aufsetzte oder Steine von unten gegen die Karosserie schlugen. Sein Vater war aus dem Wagen gesprungen, und seine Mutter hatte laut aufgeschrien. Sie waren weit außerhalb der Stadt, irgendwo in der Wadi-Dawan-Wüste, in der viele Jahre später auch die beiden Belgierinnen ihr Leben hatten lassen müssen.
    »Was ist passiert, was ist passiert?«, hatte Abdul Hadis Bruder gerufen, als der Vater aus dem Auto sprang.
    Abduls Vater hatte den Jungen unglücklich getroffen, so dass er noch am Unfallort verstorben war. Der hässliche Schrei hatte den Rest des Dorfes angelockt, und bald war das Auto von Menschen umringt gewesen. Abduls Vater versuchte, sich zu rechtfertigen: »Ich habe ihn nicht gesehen, er ist direkt vors Auto gelaufen.« Es war so trocken und staubig, dass man fast wie durch Nebel fuhr.
    Das Klagen nahm an Lautstärke zu, und auch die anderen Mütter stimmten ein. Es klang schrecklich. Ein Chor der Trauer stieg zum Himmel. Abdul Hadi erinnerte sich nicht, ob die Dorfältesten und der Vater des getöteten Jungen die ganze Zeit über dort gewesen waren. Er erinnerte sich nur daran, wie die Männer die Tür aufrissen und ihn aus dem Auto zerrten. Er saß am Rand, also erwischte es ihn. Sein Vater leistete Widerstand, wurde aber festgehalten. Einer musste sterben. Das war die Rache. Das forderte die Gerechtigkeit. Er sah zu seinen Geschwistern in den Wagen.
    »Ich habe ihn nicht gesehen«, beteuerte sein Vater weinend.
    Einige der Männer zerrten Vaters Papiere aus den Taschen und lasen den anderen seinen Namen laut vor: »Hadi. Hadi«, sagten sie wieder und wieder, als erklärte allein der Nachname seines Vaters, wie es dazu hatte kommen können. Sein Vater schrie die Männer an: »Lasst meinen Sohn gehen. Er hat nichts damit zu tun.«
    Die Frauen kreischten vor Aufregung; der tote Junge wurde hochgehoben, und Vater versuchte, mit seinem Flehen zu ihnen durchzudringen. Als das keine Wirkung zeigte, versuchte er ihnen zu drohen. Er nannte die Namen der Polizisten, die er in der Hauptstadt kannte. Aber die Stadt mit ihren Einwohnern hatte draußen in der Wüste keine Bedeutung. Sie hatten seinen Vater in die Knie gezwungen. Er rief und flehte, aber jemand beugte sich über ihn und stopfte ihm Sand in den Mund. Kotze, Geschrei und Tod. Sie legten den toten Jungen wieder ab und bildeten einen Kreis um ihn herum.
    »Dein Sohn für meinen Sohn«, schrie der Mann, der seinen Vater am Hals gepackt hatte und zuzudrücken begann. Blutiger Sand quoll aus dessen Mund, und er starrte entgeistert auf die Schrecken vor sich.
    Abdul Hadi erinnerte sich, dass der Mann den Hals seines Vaters irgendwann losgelassen hatte. Stattdessen hielt er ihn nun am Arm fest und packte mit der anderen Hand seine Schwester.
    »Du hast die Wahl«, brüllte er Abduls Vater an. »Der Junge oder das Mädchen.«
    Erst jetzt erinnerte sich Abdul daran, wie seine Mutter zu schreien begonnen hatte. Hatte sie auch schon geschrien, als nur sein Leben auf dem Spiel gestanden hatte? Vielleicht, vielleicht konnte ich es einfach nicht hören, sagte Abdul sich wieder und wieder und wieder. Es schrien so viele.
    »Der Junge oder das Mädchen?«
    »Es war ein Unfall, ein Unglück … ich flehe dich an.«
    »Dein Sohn oder deine Tochter?«
    Plötzlich war da ein Messer. Eine Klinge mit angetrocknetem Blut. Um eine Entscheidung herbeizuführen, wurde die Spitze direkt unter den Kehlkopf seines Vaters platziert.
    »Wen wählst du?«
    Abduls Vater sah nur seinen Sohn an, als er antwortete.
    »Das Mädchen. Nimm das Mädchen.«

10.
    10.
    Mittwoch, 16. Dezember
    Niels Bentzon wachte spät auf. Zu spät und alles andere als ausgeruht. Eigentlich konnte er sich direkt krankmelden. Außerdem hatte er nach einem solchen Tag wohl das Recht, sich freizunehmen. Trotzdem saß er fünfzehn Minuten später mit nassen Haaren im Auto, in der Hand einen

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