Die Auserwählten
dafür hatten sie wohl auch ihre Gründe.«
Niels musterte ihn. Der Pastor stand nur wenige Zentimeter vor ihm, aber trotzdem kam ihm der Abstand größer vor. Er schien wie von einem unsichtbaren Schild umgeben. Eine Privatsphäre, die undurchdringlicher war als bei den meisten anderen. Niels überraschte das nicht. Er kannte das von Menschen, deren Profession die Nähe und Aufmerksamkeit für andere Menschen war. Wie etwa bei Psychologen, Psychiatern, Ärzten. Sie verfügten offenbar über dieses unbewusste Schutzsystem.
»Jetzt nutze ich den Raum für die Konfirmationsvorbereitungen. Eine unangenehme, aber immer wieder effektive Lektion in funktioneller Mitmenschlichkeit.«
Rosenberg machte das Licht aus, so dass Niels in vollkommener Dunkelheit dastand.
»Wenn wir hier unten sind, erzähle ich den Konfirmanden von der Nacht, in der die Polizei kam. Wie die Flüchtlinge sich aneinanderklammerten, von ihrem Weinen und von ihrem Mut, obgleich sie wussten, was sie erwartete. Ich erzähle ihnen, wie Ihre Kollegen die Kirchtür eingeschlagen haben und wie es sich angehört hat, als sie mit ihren schweren Stiefeln durch die Kirche gelaufen sind und sich bis hier unten vorgearbeitet haben.«
Der Pastor verstummte, und Niels hörte seinen eigenen Atem.
»Aber bis hier sind sie nicht gekommen?«
»Nein, sie haben aufgegeben.«
Niels wusste genau, dass seinerzeit nicht die Polizei aufgegeben, sondern die Politik dem öffentlichen Druck nachgegeben hatte. Als Rosenberg das Licht wieder einschaltete, sah Niels sich die Fotografien an. Er versuchte sich vorzustellen, wie das alles gewesen war.
»Sind auf dem Bild hier nicht mehr als zwölf Personen?« Niels zählte. Eine Fotografie zeigte ganz offensichtlich mehr Flüchtlinge, als auf den anderen Bildern zu sehen waren. Rosenberg stand in der Tür. Er hätte Niels gern draußen gehabt.
»Doch, ein paar sind verschwunden.«
»Verschwunden?«
Niels registrierte Rosenbergs Unsicherheit sofort.
»Ja, ein paar Jemeniten, die sind einfach abgehauen.«
»Wie das?«
»Keine Ahnung. Vermutlich wollten sie sich lieber irgendwie selbst durchschlagen.« Niels spürte es sofort.
Rosenberg log.
***
Die Kirche war gähnend leer, abgesehen von dem Organisten, der wieder und wieder das gleiche Stück übte. Rosenberg schien sich keine Sorgen über die Informationen zu machen, die Niels ihm überbrachte.
»Gute Menschen, sagen Sie? Was für gute Menschen?«
»Menschenrechtler, Entwicklungshelfer, solche Leute.«
»Was ist das nur für eine Welt? Jetzt bringt man schon die Guten um.«
»Sie sollten einfach nur aufpassen, wem Sie die Tür öffnen. Seien Sie ein bisschen vorsichtig.«
Er reichte Niels einen Stapel Gesangbücher.
»Ich habe keine Angst. Ich bin sicher nicht das Ziel.«
Rosenberg schien bei dem Gedanken sogar grinsen zu müssen und wiederholte: »Ich laufe sicher nicht Gefahr, ein guter Mensch zu sein. Das kann ich Ihnen versprechen. Ich bin ein Sünder.«
»Wir glauben auch nicht, dass Sie in Gefahr sind, aber trotzdem.«
»Es gab einmal einen Mann, der Luther aufgesucht hat. Also den alten Luther.«
»Der, der uns zu Protestanten gemacht hat?«
»Genau der.« Rosenberg lächelte wieder und sah Niels wie ein Kind an. »Der Mann hat zu Luther gesagt: ›Ich habe ein Problem. Ich habe gründlich darüber nachgedacht, und wissen Sie was? Ich habe nie auch nur eine Sünde begangen, habe nie etwas getan, das man nicht tun darf.‹ Luther sah den Mann einen Augenblick lang an. Können Sie sich denken, was er gesagt hat?«
Niels fühlte sich wieder wie im Konfirmandenunterricht, und das war keine gute Erinnerung. »Dass er sich glücklich schätzen solle?«
Rosenberg schüttelte triumphierend den Kopf. »Dass er sich endlich daranmachen solle, zu sündigen. Gott sei schließlich dafür da, die Sünder zu retten, und nicht die, die bereits erlöst sind.«
Der Organist machte eine kurze Pause. Ein paar Touristen kamen herein und sahen sich die Kirche mit pflichtbewusster Neugier an. Rosenberg hatte Niels noch mehr zu erzählen, das war offensichtlich, er wartete aber, bis das Echo der Orgel durch das Dach der Kirche verklungen war.
»Die Juden haben einen Mythos von ›Den Gerechten‹. Kennen Sie den?«
»Ich hatte nie einen richtigen Bezug zur Religion.«
Niels hörte selbst, wie seine Worte klangen, und fügte entschuldigend hinzu: »Und das sage ich zu einem Pastor.«
Rosenberg fuhr unbeirrt fort, als hielte er seine sonntägliche Predigt: »In diesem
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